Der Protest der Richter
Am Samstag, den 30. Januar wurde in Italien mit großem Zeremoniell das neue Gerichtsjahr eröffnet. In den 26 Städten Italiens, in denen es ein Berufungsgericht gibt, versammeln sich die Richter, um der Rede ihres Generalstaatsanwalts und ihres Gerichtspräsidenten zu lauschen. Zum Ritual gehört auch die Rede eines Regierungsvertreters. Man hört zu, man klatscht höflich Beifall, dann gibt es vielleicht noch einen Empfang, und man geht nach Hause. So ist es üblich.
Dieses Jahr war es anders. Die italienische Justiz befindet sich in einem jämmerlichen Zustand, ihre Strukturen und Verfahren sind veraltet und die Ressourcen, die ihr die Politik zugesteht, unzureichend. Sie ist mehr als reformbedürftig, und ihre Repräsentanten erklären dies auch öffentlich. Der Präsident des obersten Kassationsgerichts in Rom, Carbone, nutzte den Anlass, um in Anwesenheit Berlusconis den Notstand mit einigen Zahlen zu illustrieren: Im Durchschnitt dauert in Italien ein Berufungsverfahren in einer Zivilsache über 4 Jahre, eine Scheidung etwa zwei Jahre, das Einklagen eines zurückgezahlten Kredits knapp drei Jahre, ein Konkursverfahren etwa 10 Jahre. Im vergangenen Jahr legte die Weltbank ein vergleichendes Rating der Justizsysteme der Länder vor. Unter 180 untersuchten Ländern kam Luxemburg auf Platz 1, Frankreich auf Platz 6, Deutschland auf Platz 7. Italien kam auf Platz 156, zwischen Gabun und Dschibuti.
Berlusconi klatschte heftig Beifall: Der Bericht zeige, wie recht die Regierung mit ihrem Gesetzesdekret „Kurzer Prozess“ habe, das in Kürze verabschiedet werden soll. Eine Interpretation, die Carbone zum Leidwesen Berlusconis sofort dementierte. Denn das Dekret löst kein einziges Problem der italienischen Justiz. Im Gegenteil, es schafft ein neues, weil es Tausende von laufenden Verfahren zur Farce werden lässt. Ganz offensichtlich dient es dem einzigen Zweck, den Regierungschef von den gegen ihn laufenden Korruptionsverfahren zu befreien. Berlusconi hatte schon vorher der Justiz den Krieg erklärt, indem er sie mal für „parteiisch“, mal für „kommunistisch unterwandert“ erklärte, weil sie die Prozesse gegen ihn weiterzuverfolgen wagt. Vor wenigen Tagen setzte er noch einen drauf, indem er verkündete, für ihn sei die Vorladung vor ein Gericht gleichbedeutend mit einer Vorladung vor ein „Erschießungskommando“.
Der größte Richterverband, der als eher konservativ gilt, hatte deshalb seine Mitglieder zu einer bislang unerhörten Aktion in allen 26 Städten aufgefordert. Zur jeweiligen Eröffnungszeremonie erschienen sie in ihren Amtsroben und verließen sie schweigend, als der jeweilige Regierungsvertreter das Wort ergriff, und zwar demonstrativ mit einem Exemplar der italienischen Verfassung in der Hand. Wer das Selbstverständnis von Juristen kennt – es ist in Italien kaum anders als sonstwo in Europa -, kann ermessen, zu welchem Tabubruch sie sich damit aufrafften. Sie taten es, während vor den Versammlungsorten Tausende von Demonstranten Sit-ins zur Verteidigung der Verfassung veranstalteten.
Die Regierung erklärte, dass für sie der Richterverband nun kein Gesprächspartner mehr sei. Der institutionelle Konflikt zwischen ihr und der Justiz verschärft sich, es geht um die italienische Verfassung. Man darf gespannt sein, wie lange dem die deutsche CDU noch schweigend zusieht. Im Europa-Parlament sitzt sie mit den Berlusconi-Leuten Schulter an Schulter in einer Fraktion.