Das „System Anemone“
Anfang Mai ist der Minister für wirtschaftliche Entwicklung, Claudio Scajola (PdL), von seinem Amt zurückgetreten (worden). Berlusconi ließ ihn – nach einigem Hin und Her – wie eine heiße Kartoffel fallen. Der Grund: Ende April hatte die Tageszeitung „Repubblica“ ans Licht gebracht, dass sich besagter Minister offenbar seine römische Wohnung mit Blick aufs Kolosseum von einem Bauunternehmer mit dem schönen Namen Anemone mit 900.000 Euro mitfinanzieren ließ. Trotz vehementer Zurückweisung aller Vorwürfe (dem üblichen: „Ich bin Opfer eines Medienkomplotts, irgendjemand hat es auf mich abgesehen…“) und B.s anfänglicher Ermunterung („Halte durch, kämpfe mit dem Messer zwischen den Zähnen!“) war bald nichts mehr zu retten. Eindeutige Zeugenaussagen, notarielle Dokumente und 80 den Richtern vorliegende Schecks des Bauunternehmers, ausgestellt durch die Deutsche Bank, in Höhe von insgesamt 900.000 Euro besiegelten Scajolas Schicksal. Nachdem sogar B.s Familienblatt „Il Giornale“ empört nach Scajolas Rücktritt rief, warf der Minister das Handtuch. Nicht ohne die erstaunliche Aussage, er hätte keine Ahnung gehabt, dass irgendjemand offensichtlich seine Wohnung bezahlt habe, denn wenn er das gewusst hätte, hätte er denjenigen verklagt (sic!).
Der „Fall Scajola“ stand im Zusammenhang mit richterlichen Untersuchungen der Geschäfte von Anemone beim geplanten G8-Treffen auf Sardinien (s. unser Beitrag „Der Macher“). Er war nur der Anfang. Nach und nach sickerten Informationen über weitere „Gefälligkeiten“ Anemones gegenüber Regierungsvertretern, hohen Staatsbeamten und anderen „Prominenten“ durch. Die rechte Hand des Ministers für Infrastruktur scheint von Anemone 52 Checks in einem Gesamtwert von 520.000 Euro für die römische Wohnung seiner Tochter nahe der Piazza del Popolo erhalten zu haben. Selbst will er dafür nur 300.000 Euro gezahlt haben – wer die Immobilienpreise in Rom kennt, kann darüber nur lachen. Dem General der Guardia di Finanza, Pittorru, scheint Anemone sogar zwei Wohnungen geschenkt zu haben. Der behauptet nun, das sei nur eine Anleihe gewesen, die er zurückgezahlt habe. Dummerweise seien die Belege bei einem Einbruch in sein Haus auf Sardinien verloren gegangen…
Woher soviel Großzügigkeit des umtriebigen Bauunternehmers? Dass er nur ein Wohltäter prominenter Bürger ist, scheint unwahrscheinlich. Die Firmenunterlagen in der Hand der Richter besagen, dass Anemone von 2002 bis 2009 Baugeschäfte in Höhe von ca. 100 Millionen Euro getätigt hat. Auftraggeber waren u.a.: Senat, Palazzo Chigi (Sitz des Ministerpräsidenten), die Ministerien des Innen, der Justiz, der Verteidigung und der Finanzen, der Chef des Zivilschutzes (Bertolaso) sowie eine ganze Reihe weiterer hoher Staatsbeamte, u.a. diejenigen, die er nun mit prächtigen Wohnungen in bester Lage beglückte.
Nun versetzt „Appaltopoli“ („Appalti“: Bauaufträge) die römische Nomenklatur in Aufruhr; die Internetseiten der PdL sind voll mit Beschimpfungen eigener Anhänger. Berlusconi wird langsam nervös und gibt sich entrüstet. Er verlangt lauthals, dass die Schuldigen bestraft werden und endlich mit der Korruption aufgeräumt wird. Scajola und Co. haben nun Anlass, über die Ungerechtigkeit der Welt zu sinnieren. Denn eigentlich haben sie doch nur im Kleinen nachgemacht, was ihnen ihr Chef im Großen vorgemacht hat. Dieser naheliegende Gedanke scheint aber das Gewissen der wütenden PdL-Anhänger („Ich habe PdL gewählt, aber dachte nicht, dass ich eine Bande von Dieben gewählt habe!“, „Schämt Euch!“, „Macht endlich reinen Tisch!“ usw.) nicht zu belasten. Leichte Bewußtseinspaltung…?
Distanzierte Betrachter des Geschehens erinnern an den Bestechungsskandal „Tangentopoli“, der zu Beginn der 90er Jahre die erste italienische Republik zum Einsturz brachte. Aber nicht ohne auf den feinen Unterschied hinzuweisen: Damals ließ man sich noch überwiegend zum Wohle der eigenen Partei bestechen. Heute, bei „Appaltopoli“, nur noch zum eigenen Wohl.