„Oh bella ciao, ciao, ciao…“
Ende Mai in Rom: Die Schüler der Mittelschule „Giuseppe Gioacchino Belli“ wurden ins Erziehungsministerium eingeladen, um Musikalisches vorzutragen. Eltern und Lehrer sind dabei. Vor dem Staatssekretär Giuseppe Pizza, dem Büroleiter der Ministerin und zwei hohen Ministerialbeamten schmettern die etwa zwölfjährigen Kinder gekonnt Volks- und Gospellieder sowie Stücke aus dem klassischen Repertoire. Alle sind begeistert. Doch zum Schluss, außerhalb des offiziellen Programms, stimmen die Kinder aus eigener Initiative ein bekanntes Lied an. Aber die Kinder müssen ihren Gesang unterbrechen, die Schulleiterin entschuldigt sich bei den Honoratioren. Und schreibt am nächsten Tag einen Brief an Eltern und Lehrer, in dem sie ihrem Entsetzen freien Lauf lässt:
„Dieses Ereignis muss Empörung hervorrufen. Ich fordere die Erwachsenen (d.h. Eltern und Lehrer, A.d.R.) auf, sich wegen des Geschehenes in geeigneter Weise zu entschuldigen und mit den Kindern darüber zu sprechen, damit sie verstehen, dass es zwar richtig und wichtig ist, die eigene Meinung zu äußern, auch wenn sie abweichend ist, dass es aber mindestens genauso wichtig ist, sich so zu verhalten, dass die Grenzen der Opportunität, des Respekts gegenüber anderen Menschen, der Korrektheit und des guten Geschmacks nicht überschritten werden…“.
Wenn man den Brief liest, könnte man meinen, die Kinder hätten – trotz ihres zarten Alters – mit zotigen Versen, an denen es in Italien und speziell in Rom nicht mangelt, die ministeriellen Ohren beleidigt. Tatsächlich haben die Kleinen nur „Bella ciao“ gesungen, das – nicht nur in Italien – bekannteste Lied der antifaschistischen „Resistenza“. Ein Lied, das in Italien über Parteigrenzen hinweg bei öffentlichen und auch privaten Anlässen unzählige Male gesungen wurde, ein Symbol des Kampfes für Freiheit und Demokratie, gegen Gewaltherrschaft und Eroberungskriege.
Wofür sollten sich also die Eltern entschuldigen? Und wieso transportiert das Lied „Bella ciao“ Meinungen, die „abweichend“ sind? Abweichend wovon, abweichend von wem? Womit hat die eifrige Schulleiterin ein Problem? Oder besser gesagt: wovor hat sie Angst?
Es ist vielleicht nur eine kleine Episode, aber sie ist symptomatisch für das Italien des Cavaliere und der Lega. In der Tageszeitung „La Repubblica“ merkt Mario Pirani an:
„..Bis vor kurzem war ‚Bella ciao‘ fast ein institutionelles Lied, ein Partisanenlied jenseits der politischen Farben, in dem alle Demokraten und die aus der Resistenza und der Verfassung geborenen Institutionen sich wiedererkennen können… Auch wenn ich nicht annehmen will, dass die Schulleiterin antidemokratische Gefühle hegt, so spürt sie offensichtlich – und das ist vielleicht das Besorgniserregende – ein generelles Klima der Leugnung und der Deformation der italienischen Geschichte… Die Folgen, gerade in der Bildung, können verheerend sein…“.
Die Beweggründe der beflissenen Schulleiterin waren vermutlich vorauseilender Gehorsam und die Befürchtung, ihre Schule könne unangenehm auffallen, wenn sie sich außerhalb dessen stellt, was sie als neuen „Mainstream“ wahrnimmt. Furio Colombo schreibt dazu im „Fatto quotidiano“:
„Die Episode ist mehr als skandalös, sie ist traurig. Die arme Schulleiterin hat nicht einmal gemerkt, dass in einer Welt, die von medialen Marionetten, Imitationen des Fernsehens und beängstigendem Konformismus beherrscht wird, ihre jungen Schüler Mut und Originalität bewiesen haben“.
In der Tat: Wenige Tage nach dem „Skandal“ und dem Brief der Schulleiterin stellten sich einige Schüler mit ihren Eltern vor die Schule und sangen noch einmal aus vollem Hals „Bella ciao“. Statt der geforderten „Entschuldigung“.