Nobelpreis für Heuchelei
Wenn es einen Nobelpreis für Heuchelei gäbe, bestünde für mich kein Zweifel, wer ihn sich verdient hätte. Ich hatte schon keinen Zweifel, bevor ich die letzten Auslassungen von B. hörte, aber danach noch weniger. Nachdem er nun zum wiederholten Mal in einen Skandal um erotische Spielchen mit Minderjährigen geraten ist, wurde er von Leuten zur Rede gestellt, die er für „Kommunisten“ hält, ich hingegen für Journalisten, die professionell arbeiten und sich von der Macht nicht einschüchtern lassen.
Lassen wir aus Gründen des Anstands alle Aspekte erotischen Genusses beiseite, welche die Geschichte der siebzehnjährigen Marokkanerin und ihrer Feste in der Villa von B. zu bieten hat. Konzentrieren wir uns stattdessen auf einen anderen Aspekt, der mir wichtiger erscheint. Wichtige Tageszeitungen – Repubblica, Corriere, La Stampa – berichteten, der Premier habe direkt oder indirekt, in jedem Fall aber persönlich bei der Mailänder Polizeidienststelle interveniert, um die sofortige Freilassung eines Mädchens mit dem (Künstler-)Namen Ruby zu erwirken, die dort wegen Diebstahlverdachts und zugehöriger Ermittlungen in Gewahrsam genommen war. Dabei seien die Polizeibeamten mit der Behauptung konfrontiert worden, das Mädchen sei „eine Nichte des ägyptischen Präsidenten Mubarak„, womit vielleicht auch gerechtfertigt werden sollte, warum es hier zu dieser eigentlich unzulässigen Intervention von höchster staatlicher Stelle kam.
Wie reagierte nun B., als dies jetzt ans Licht kam? Hier seine Antwort, die er in verschiedenen Interviews gab.
„Ich habe nur zum Ausdruck bringen wollen, dass es sich hier um eine vertrauenswürdige Person handelte. Sie hatte unser Mitgefühl, weil sie uns eine dramatische Geschichte erzählt hatte, der wir alle Glauben schenkten… Ich bin nun einmal jemand mit Herz, und immer hilfsbereit gegenüber demjenigen, der Hilfe braucht“.
Von nun an wissen wir also, was ein unbegleiteter Minderjähriger zu tun hat, der sich in Italien in Schwierigkeiten befindet. Er oder sie braucht nur im Palazzo Chigi, dem Sitz des Ministerpräsidenten, anzurufen und B. um Hilfe zu bitten. Und ihn dabei sicherheitshalber auch noch „Papi“ zu nennen, denn es scheint, dass B. das gern mag. Schade, dass diese Güte von B. bisher nur wenigen bekannt war und sich wohl insbesondere noch nicht zu seinem Innenminister Maroni herumgesprochen hat. Wenn dieser wüsste, dass es eine Anweisung des Regierungschefs gibt, die vielen Minderjährigen, die unter Einsatz ihres Lebens bis nach Italien gelangen, mit offenen Armen aufzunehmen und ihnen zu helfen, würde Maroni sein Verhalten bestimmt ändern. Seine Anweisung, mit den Flüchtlingen „böse“ zu verfahren, hätte es nicht gegeben, seine Politik ihnen gegenüber wäre anders.
Dann hätte es auch nicht die vielen verhafteten Minderjährigen gegeben, die illegal in die CIE (Centri di Identificazione ed Espulsione, Zentren zur Identifikation und Ausweisung) transportiert wurden, wie die beiden Marokkaner Mahdi und Jussuf, die 2009 in das Turiner Abschiebe-Zentrum in der Via Brunelleschi verbracht wurden. Kein Minderjähriger wäre nach Lybien zurückgeschafft worden, in die Hände des Diktators Gaddhafi, wie es verschiedene Presseagenturen berichteten.
Wenn die Worte des Ministerpräsidenten irgendeinen Sinn, irgendeine Bedeutung hätten, gäbe es keine jugendlichen Flüchtlinge, die in den Wellen des Mittelmeers ertrinken, in Containern ersticken oder von den Reifen eines Fernlasters zerquetscht werden. Wie Kahled, der 15-jährige Afghane, der in Bertinoro bei Forlì starb. Oder Zaher, der 13-jährige Dichter, der in Mestre starb. Oder der 14-jährige Amir, dessen Leben unter den Reifen eines Lasters im Juni 2009 endete.
Aber leider bedeuten diese Auslassungen von Ministerpräsident B. nichts, weder praktisch noch moralisch.
PS: Um Kahled nicht zu vergessen, habe ich 2009 eine Erzählung („La Missione di Tariq“, „Tariqs Auftrag“) geschrieben. Ende Oktober war im Theatermuseum in Hannover die Geschichte des jungen Flüchtlings auf der Bühne zu sehen.