Galgenfrist für Berlusconi?
Das Drehbuch für den gegenwärtigen „Machtpoker“ müssen wohl alle politischen Kräfte neu schreiben. Die wie ein leckgeschlagenes Schiff im Sturm schwankende Regierung Berlusconi kann sich wahrscheinlich länger über Wasser halten, als sich die Opposition und Gianfranco Fini mit seiner FLI bisher dachten. Die Gründe sind weder verbesserte Umfragewerte für B. und die Seinen, noch ein Aufschwung in der Regierungsarbeit oder umgefallene Parlamentarier. Der Grund ist ökonomischer Natur. Er ist von einem derartigen Gewicht, dass Staatspräsident Napolitano in der vergangenen Woche nicht müde wurde, bei allen erdenklichen Anlässen immer wieder darauf hinzuweisen. Es sind die mit dem enormen Staatsdefizit verbundenen Gefahren, die wie ein Hurrikan auf Italien zusteuern. Zwar ist dieses Defizit, das gegenwärtig 118 Prozent vom Bruttosozialprodukt (BSP) beträgt, nicht neu, doch angesichts der Finanzkrise in Griechenland und Irland gewinnt es aktuelle Bedeutung.
Am 15. Dezember wird sich die EU-Kommission in Brüssel mit den Staatsschulden als wichtigstem Tagesordnungspunkt befassen. Sie wird Maßnahmen beschließen, wie das im EU-Vertrag festgelegte Kriterium von 60 Prozent Defizit/BSP zu erreichen ist. Schon eine langsame Annäherung an diese Zielmarke würde Italien mit seinen 1.800 Milliarden Schulden zu einer dramatischen Sparpolitik zwingen. Dabei sieht das bisher geplante Haushaltsgesetz für 2011 sogar ein Anwachsen der Verschuldung auf 120 Prozent vor. Dafür wären beim gegenwärtigen Stand der Dinge jährlich rund 60 Milliarden Euro aufzubringen. Sollte Italien am 15.12. in Brüssel zu einer Trendumkehr „verdonnert“ werden, würde eine Korrektur im (schon jetzt nicht mehr aktuellen Haushaltsentwurf) von weiteren geschätzten 20 Milliarden Euro notwendig.
Aber dies wäre noch das beste Szenario, das man für die Finanzkrise in Italien erhoffen kann. Ein schon schlechteres würde sich ergeben, wenn eine am Vortag des 15. 12. gestürzte und nur noch kommissarisch amtierende Regierung Berlusconi die delikaten Verhandlungen um den Abbau der Staatsschulden führen müsste. Selbst wenn B. die anderen Regierungschefs zu einer „sanften Gangart“ gegenüber Italien veranlassen könnte, würden die Finanzmärkte dem „Lügenbaron“ aus Villa Arcore kaum Glauben schenken. (Was wohl auch Staatspräsident Napolitano befürchtet, weshalb er die politischen Kräfte immer wieder an ihre Verantwortung gegenüber Italien erinnert). Das Szenario würde noch schlechter, wenn sich im italienischen Parlament eine neue Regierungsmehrheit fände oder es im Frühjahr Neuwahlen gäbe. B. mit seiner PDL und Bossi mit seiner Lega wollen Neuwahlen, weil sie überzeugt sind, sie zu gewinnen. Kräfte auf der Linken und im Zentrum bevorzugen die erste Lösung. Finanzpolitisch wäre beides der „worst case“.
Denn im nächsten Jahr muss Italien für seine Staatsanleihen in Höhe von rund 300 Milliarden Euro neue Käufer finden, da die alten auslaufen. Rund 100 Milliarden davon werden schon im Februar/März fällig. Sollte im ersten Quartal 2011 der Wahlkampf laufen, mit ungewissem Ausgang, würde die Unsicherheit auf den Finanzmärkten zunehmen. Geringere Sicherheit oder erhöhtes Risiko bedeutet automatisch höhere Zinsen. Schon jetzt muss Italien Zinsen für seine Schulden zahlen, die fast doppelt so hoch sind wie die deutschen, wenn auch nicht so viel wie Irland oder Portugal. Bei einer nur leicht abgestuften Zahlungsfähigkeit durch die Ratingagenturen (wegen Überbelastung des laufenden Haushalts) und einem nur geringfügig heraufgesetzten Zinssatz müsste das italienische Finanzministerium sofort weitere rund 20 Milliarden Euro auftreiben. Angesichts einer stagnierenden Wirtschaft (d.h. relativ abnehmender Staatseinnahmen) und einer exorbitanten Steuerhinterziehung eine schier unmögliche Aufgabe. Als einzige Alternative bliebe, die Daumenschrauben bei den ohnehin in den letzten Jahren gebeutelten Bürgern noch weiter anzuziehen (das heißt die Sozialkosten zu verringern und/oder die Steuern zu erhöhen). Was den vorhandenen Protest, der sich schon jetzt auf Strassen, Kuppeln und Türmen zeigt, noch einmal vervielfachen würde. Jeder Schritt Richtung Chaos würde weitere Milliarden kosten.
Ob Staatspräsident Napolitano dies alles vor Augen hat, ist öffentlich nicht bekannt. Aber er täte gut daran, die politischen Kräfte – soweit es in seiner Macht steht – am Eintreten des „worst case“ zu hindern. Womit man aber der Lösung der ökonomischen und politischen Probleme um keinen Schritt näher gekommen wäre. Man wird sich also auf allen Seiten etwas Neues einfallen lassen müssen. Denn dass es mit Berlusconi und dieser Regierung so nicht weitergehen kann, ist auch klar.