Wie bedrohlich ist die Wirtschaftslage in Italien?


Vorbemerkung der Redaktion

Rolf Uesseler ist den Lesern dieses Blogs bereits bekannt. Der folgende Beitrag von ihm eröffnet eine Serie von Artikeln, mit denen er unsere Leser in die politökonomische Situation Italiens einführen will. Da sie letztlich eine Einheit bilden, werden wir sie sukzessiv in unserer Dokumentation zusammenfassen.


Politökonomische Betrachtungen (1)

Kürzlich verkündete FIAT, einen Teil seiner Pkw-Produktion nach Serbien verlagern zu wollen. Tags darauf protestierten gleich reihenweise Minister der Berlusconi-Regierung gegen diese Entscheidung. Vor allem Politiker der populistisch-rassistischen Lega überboten sich in Beschimpfungen, Drohungen, Erpressungen in Richtung Turiner Konzernspitze. „Wer bei uns am Tisch mitisst, kann sich nicht einfach wie ein Dieb davonstehlen“, war noch einer der harmlosesten Kommentare. Nachdem das Ganze auch in den Medien hoch gekocht war, bestellte die Regierung einige Tage nach der FIAT-Ankündigung deren Firmenleitung zum Rapport in die Hauptstadt und forderte die Gewerkschaften auf, sich ebenfalls einzufinden.

Wäre ein solcher Vorgang nördlich der Alpen – in Schweden, England oder Holland – denkbar? Wohl kaum. In Italien wird dieses Vorgehen der Regierung von einigen mit Applaus, von anderen mit leiser Kritik begleitet. Aber die übergroße Mehrheit der Bevölkerung findet es ganz normal. weil es in Italien Tradition ist und eine lange Geschichte hat. Die „arrogante Einmischung“ des Staats in die Angelegenheiten der Wirtschaftssubjekte ist eine Besonderheit, die das politökonomische System Italiens von anderen – v. a. aus dem angelsächsischen Raum – unterscheidet.

Viele besorgte Fragen zu den Zuständen in diesem Land sind kaum beantwortbar, wenn man nicht auf die politökonomischen Hintergründe eingeht. Der wirtschaftspolitische Untergrunds – was seine Struktur und Funktion betrifft – erklärt zwar nicht alles, was sich derzeit politisch in Italien abspielt, aber vieles ist ohne ihn nicht erklärbar. Ohne ihn bleibt unverständlich, warum ein großer Teil der Italiener immer wieder Berlusconi wählt, und der „Berlusconismo“ auf absehbare Zeit wohl nicht durch eine „Volksbefragung“ oder ein Wählervotum gestürzt, sondern vorher an seinen inneren Unzulänglichkeiten scheitern wird.

Da die Leute in anderen EU-Staaten z. T. in gänzlich anderen politisch-ökonomischen Verhältnissen leben und Italien zunächst von ihrem Standpunkt aus beurteilen, sollen die Unterschiede und Besonderheiten Italiens dargestellt werden. In mehreren Beiträgen werden Status quo, Genese, Struktur, Funktion, Entwicklung etc. genauer betrachtet.

Vorweg noch eine Bemerkung. Die kapitalistischen Produktionsweisen, die in den verschiedenen Ländern – auch der EU – anzutreffen sind, unterscheiden sich nicht nur in Nuancen voneinander. Der angelsächsische Typus ist anders als der skandinavische. In Italien herrscht der Typus, den ich den „byzantinistischen“ oder „mediterranen“ nenne. Mit Varianten ist er bei fast allen Mittelmeeranrainern anzutreffen – in seiner europäischen Form von Spanien über Griechenland bis in die Türkei; in seiner arabischen Form von Syrien über Tunesien bis nach Algerien (abgeschwächt auch in Südfrankreich). Eines seiner Hauptcharakteristika ist das nahezu uneingeschränkte Primat der politischen/staatlichen Macht über alle anderen gesellschaftlichen Bereiche.

Sehr vereinfacht kann man davon ausgehen, dass moderne kapitalistische Gesellschaften drei Sphären herausgebildet haben: Politik/Staat; Produktion/Wirtschaft; Zivil-/Kulturgesellschaft. Diese sind interdependent, d. h. beeinflussen sich ständig gegenseitig und bilden ein wie auch immer geartetes dynamisches Gleichgewicht. Am stabilsten, d. h. anpassungsfähigsten gegenüber veränderten Bedingungen (und am „gerechtesten“) haben sich Gesellschaften erwiesen, in denen die Macht zwischen diesen drei Sphären ungefähr gleich verteilt ist. (Wie es z. B. in den skandinavischen Ländern und hier vor allem in Norwegen der Fall ist). Da es sich um ein dynamisches Gleichgewicht handelt, schließt dies nicht aus, dass für eine bestimmte Zeit mal die eine, mal die andere Sphäre ein Übergewicht hat. Beim mediterranen Typus handelt es sich aber nicht um eine vorübergehende Vormachtstellung der politischen Macht, sondern hier ist das Primat strukturell verfestigt; Wirtschaft und Zivilgesellschaft spielen nur eine nachgeordnete Rolle. Die politische Schicht als ganze – die Oppositionen eingeschlossen – ist zur „parasitären Oberschicht“ geworden. Zusammen mit den historischen Vorbedingungen führt dies in Italien zu Verwerfungen, Immobilismen, Verkrustungen und Instabilitäten. Wie sie sich im Alltäglichen zeigen und im Konkreten abspielen, soll im Folgenden nachgezeichnet werden.

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