Wo ist die Scham geblieben?

Crainz vergleicht die Lage zu Beginn der 90er Jahre, als die sog. „Erste Republik“ Italiens unter den Schlägen von Tangentopoli zusammenbrach, mit der heutigen Situation. Damals gab es einen öffentlichen Sturm der Entrüstung, als das Parlament das Craxi-Regime zu retten versuchte – eine Entrüstung, die heute angesichts ähnlicher Rettungsversuchs für Berlusconi ausbleibt. Um diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, fordert Crainz eine „kritische Reflexion“ auch der sich damals artikulierenden Öffentlichkeit.

„Es war ein … Irrtum, im damaligen Aufbegehren nur ein Zeichen gewachsener öffentlicher Sensibilität zu sehen, und nicht auch den Ausdruck einer schlimmen antipolitischen Stimmung. Denn nur so ist zu verstehen, warum jene Phase mit dem Triumph Berlusconis und Bossis endete. Es war damals ein verheerender Selbstbetrug, alle Schuld bei der politischen Kaste zu suchen, der eine tugendhafte Zivilgesellschaft gegenüberstand. Als wenn nicht auch diese schon die tiefgehende anthropologische Mutation ergriffen hatte, die Pasolini beschrieb. Wir können auch nicht mehr verdrängen, dass beträchtliche Teile der „Zivilgesellschaft“, die sich in den 80er Jahren herausgebildet hatte, in die Institutionen der Lega und der Forza Italia eingingen, mit den heute zu Tage tretenden Auswirkungen …

Vor 20 Jahren wiederholte sich der Fehler, den Massimo D’Azeglio (italienischer Politiker und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, A.d.R.) schon bei der Staatsgründung ausgemacht hatte: „Sie wollten ein neues Italien schaffen, aber selber die Italiener von einst bleiben… Sie denken, Italien reformieren zu können, und niemand merkt, dass dies nur gelingen kann, wenn sich die Italiener auch selbst reformieren“… Die Reaktion der italienischen Gesellschaft auf die politische Krise zu Beginn der 90er Jahre darf also nicht verklärt werden – aber in ihr steckte auch staatsbürgerliches Aufbegehren, auch der Gedanke an eine andere öffentliche Ethik, auch zivilgesellschaftliche Leidenschaft. Einstellungen, die in den folgenden Jahren wieder hervortraten und ein Mitte-Links-Bündnis stützten, das aber bald seine Unfähigkeit zur Regierung wie zur Opposition zeigte. Zweifellos trug das Fehlen realer Veränderungsperspektiven dazu bei, dass sich Resignation und Enttäuschung breit machten, ein Gefühl der Ohnmacht, ein Rückzug ins Verstummen (und manchmal auch ein neuer, trostloser Konformismus). Dies schwächte die versprengten Teile der Gesellschaft, die den Gedanken an eine andere Zukunft nicht aufgaben. Und die vor allem die Zukunft als solche nicht aufgeben wollten. Es wäre jedoch ein neuerlicher Irrtum, dafür die Schuld allein der Politik zu geben, ohne tiefer nach den Prozessen zu fragen, die in jenen Jahren die italienische Gesellschaft erfassten. Im Herzen jener zivilgesellschaftlichen Mobilisierungen befanden sich z. B. häufig jene „reflexiven Mittelschichten“, auf die (der Historiker, A.d.R.) Paul Ginsborg hinweist – die Geschichte dieser Jahre ist auch die Geschichte ihrer nicht nur politischen, sondern auch zunehmenden kulturellen und sozialen Isolierung. Es ist zugleich die Geschichte der Ausbreitung moderner Formen der Unkultur und des „Plebejertums“ im (so der Soziologe Carlo Donolo) „verängstigten Herz der Mittelschichten“, die immer mehr ihre zivilisierende Kraft verlieren. Wir müssten die Analyse noch weiter treiben, um den Abgrund zu ermessen, den die fast irreversible Verschleuderung öffentlicher Güter und Ressourcen aufriss – und vor allem die Zerstörung der Hoffnungen der jungen Generation.“

Der Artikel endet mit einer Erinnerung an die Aufbruchstimmung, die Italien vor 50 Jahren (1961) zur Hundertjahrfeier der staatlichen Einheit erfasst hatte, und die sogar den damaligen Präsidenten J. F. Kennedy veranlasste, von Italien als einem „der ermutigendsten Beispiele der Nachkriegszeit“ zu sprechen. Und schließt mit folgender Betrachtung:

„Bei den jetzt stattfindenden Feierlichkeiten (zum 150. Jahrestag der Einheit Italiens) wird es nicht viele Staatsmänner geben, die sich mit ähnlichen Worten an uns wenden. Aber die einstigen Worte Kennedys dementieren nachdrücklich alle diejenigen, die uns mit trostloser Resignation nur daran erinnern, dass „wir schon immer so waren“. Sie sagen uns vielmehr, dass wir uns noch immer eine andere Zukunft schaffen können. Was sicherlich schwer und fast unmöglich ist, aber auch verzweifelt notwendig.“

Nach „La Repubblica“, 20.1.2011