Lampedusa ist Europa
Die italienische Regierung tat sich zunächst schwer, auf die Ereignisse in Libyen zu reagieren. „Keine Einmischung in innere Angelegenheiten“, „abwarten“ (Außenminister Frattini); „Ich rufe ihn nicht an, um ihn nicht zu stören“ (Berlusconi). Erst nachdem alle anderen europäischen Regierungen Stellung genommen hatten und vor allem die USA Druck auf B. ausübten, gab es von der italienischen Seite deutlichere Worte.
Dieses Widerstreben hat mehrere Gründe. Neben den gewaltigen Geschäftsinteressen Italiens (und B.s persönlich) in Libyen ist es vor allem die Sonderrolle Gaddafis beim Fernhalten afrikanischer Flüchtlinge von den italienischen Küsten. Sie wurde im „Freundschaftsabkommen zwischen Italien und Libyen“ festgeschrieben, das 2007 von Innenminister Amato (Regierung Prodi) unterzeichnet und im August 2008 unter Berlusconi operativ wurde. Italien bietet Libyen Wiedergutmachung für die Verbrechen während der faschistischen Kolonialherrschaft, Libyen sorgt im Gegenzug mit drakonischer Härte dafür, dass Bootsflüchtlinge ins eigene Land „zurückgeführt“ werden (sofern ihre Boote nicht direkt versenkt werden, wie mehrfach geschehen). Die italienische Marine unterstützt die „Rückführung“, deren Begleitumstände inzwischen ans Licht kamen: Die nach Libyen zurückgeschleppten Menschen wurden in Gefängnisse und Lager gesteckt und gefoltert, Frauen massenweise vergewaltigt. Libyen hat die Genfer Flüchtlingskonvention nie unterschrieben, Prüfungs- und Anerkennungsverfahren für Flüchtlinge existieren dort ebenso wenig wie menschenwürdige Sammelunterkünfte.
Diese Praxis der „Zurückweisungen“, bevor überhaupt mögliche Asylgründe geprüft wurden, stellt eine massive Verletzung der Genfer Flüchtlingskonvention dar, wie das Hohe Kommissariat der Vereinigten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) wiederholt anmahnte. Dessen ungeachtet jubelte Innenminister Maroni (Lega Nord) über die Reduzierung der Flüchtlingszahlen auf italienischem Boden. B. brachte es auf den Punkt: „Entschuldigung (Italiens, A. d. R.) und Wiedergutmachung gegen weniger Illegale und mehr Gas und Öl (für Italien)“. Ein gutes Geschäft. Was aus den Menschen wird, wen kümmert es?
Nicht verschwiegen werden darf, dass auch die anderen Regierungen der EU gute Miene zum bösen Spiel machten. Nach dem Motto: Sollen Italien und Libyen doch die Drecksarbeit machen, Hauptsache sie halten uns die Flüchtlinge vom Hals. Pech gehabt, Italien, wenn Lampedusa und nicht – sagen wir – die nordfriesischen Inseln in Nordafrikas Nähe liegen.
Jetzt droht das Ganze zusammenzubrechen. Das Volk in Libyen erhebt sich, trotz der Gewaltexzesse schwankt die Herrschaft Gaddafis. Der gute Freund und Partner, dem B. unterwürfig die Hand küsste (s. Foto), droht Italien mit unkontrollierten Flüchtlingsströmen. Da Gaddafi die Kontrolle über das Land verloren hat, ist es in der Tat möglich, dass nun auch viele Menschen aus Libyen und anderen afrikanischen Ländern – wie schon aus Tunesien – über Italien den Weg nach Europa suchen.
Auch wenn es diese italienische Regierung und die Lega Nord sind, die jetzt Panikmeldungen über Hunderttausende und gar Millionen verbreiten, die nach Italien flüchten wollen: das Problem ist dennoch real. Seine Lösung kann nicht allein Italien überlassen werden. Zu Recht schreibt Jan Ross in der „ZEIT“ vom 24. 2.: „Europa muss deutlich machen, dass es sich nicht länger auf Gaddafis Regime als Hilfspolizist zur Abwehr von arabischen und afrikanischen Flüchtlingen verlassen wird – die unvermeidliche Kontrolle der Zuwanderung müssen die Europäer schon selbst .. verantworten. Schließlich: wenn Libyer .. unter dem Druck von Not und Verfolgung ihr Land verlassen, dann fliehen sie aus einem Krisengebiet, in das man sie nicht zurückschicken darf. Ihre zumindest vorübergehende Unterbringung und Versorgung ist eine gemeinsame europäische Aufgabe.“
Ein gemeinsames Konzept zur Steuerung der Zuwanderung und zur gezielten Wiederaufbauhilfe in den Herkunftsländern der Flüchtlinge ist – spätestens seit den Volkserhebungen – wirklich überfällig. Auch im Interesse Europas. Es reicht nicht, Frontex-“Experten“ und vielleicht ein bisschen Geld nach Italien zu schicken. Am nächsten Donnerstag treffen sich in Brüssel die EU-Innenminister. Der deutsche Innenminister hat vor Journalisten erklärt, das Flüchtlingsproblem müsse zwar angegangen werden, aber bitte schön „nicht auf unsere Kosten“. Mit dem süffisanten Zusatz, dass hier „Italien zwar gefordert, aber noch nicht überfordert“ sei. Nach gemeinsamer europäischer Verantwortung klingt das nicht.