Empörung statt Verantwortung
„Bundesregierung empört über Berlusconi“, „Berlusconi bricht in eklatanter Weise europäisches Recht“. Endlich, möchte man sagen, endlich haben sie es begriffen! Die Angriffe auf die Verfassung, die Medienfreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz, B.s Gesetze ad personam, seine Kontakte zur Mafia… Doch darum geht es leider nicht. Dazu schweigen Bundesregierung und CDU/CSU auch weiterhin. Erbost sind sie nur deshalb, weil die italienische Regierung den aus Nordafrika kommenden Migranten befristete Visa erteilen will, mit denen sie sich in Italien frei bewegen und – das ist der Punkt – in ein anderes europäisches Land weiterreisen können. Obwohl doch klar sei, das die meisten Zuwanderer „Wirtschaftsflüchtlinge“ ohne Anspruch auf Asyl sind.
In der Tat ist Italien nach dem Schengener Abkommen verpflichtet, bei allen ankommenden Migranten individuell zu prüfen, ob Asylgründe vorliegen. Wenn nicht, ist Italien für die Rückführung zuständig. Es entspricht der Rechtslage, dass die erteilten Visa zur Einreise in ein anderes europäisches Land nicht ausreichen, sondern auch gültige Personalausweise und Mittel zum eigenen Unterhalt erforderlich sind. So weit ist formaljuristisch alles richtig.
Dennoch wäre ein gemeinsames europäisches Vorgehen in dieser Frage politisch und praktisch erforderlich. Denn worum geht es? Die Umwälzungen in Nordafrika, die sich auf immer mehr Länder ausweiten, hat Europa freudig begrüßt. In Tunesien und Ägypten wurden die Despoten gestürzt, in anderen Ländern wackelt ihre Macht. Jetzt wird deutlich: Es war ihre eiserne Faust, der Europa verdankt, dass die afrikanischen Armutsflüchtlinge von seinen Grenzen fern gehalten wurden. Mit den Demokratiebewegungen gerät auch das ins Wanken. Die Menschen setzen sich in Bewegung. Sie wollen mehrheitlich nicht nach Italien, sondern nach Nordeuropa, vor allem Frankreich und Deutschland. Lampedusa ist das für sie erreichbare Tor zu Europa. Deswegen irrt Innenminister Friedrich, wenn er meint, „Italien muss sein Flüchtlingsproblem allein lösen“. Es ist ein europäisches Problem. Deswegen ist Europa – auch Deutschland – aufgefordert, einen Beitrag zu dessen Lösung zu leisten.
Wann endlich lernt Europa, europäisch zu handeln? Während des Bosnien- und Kosovokrieges war es u. a. Italien, das sich gegen die Aufnahme von Flüchtlingen wehrte. Heute sind es Frankreich und Deutschland. Es ist wahr, Deutschland hat in der Vergangenheit mehr Menschen aufgenommen als Italien. Doch das rechtfertigt nicht das Fehlen einer gemeinsamen Zuwanderungspolitik. Weder Schengen, noch Frontex, noch patroullierende Schiffe auf dem Mittelmeer können sie ersetzen. Das sind lediglich Abwehrreflexe, noch dazu untaugliche.
Richtig ist, dass Italien in der Lage sein müsste, die Erstaufnahme von 23.000 Migranten zu gewährleisten und deren Status zu klären. Es erfüllt diese Aufgabe denkbar schlecht. Trostlose Zustände auf Lampedusa, Streit unter den Regionen um die Aufnahme, ebenso medienwirksame wie folgenlose Versprechungen des Ministerpräsidenten. Genug Gründe, um die italienische Regierung scharf zu kritisieren. Aber kein Grund für Europa, sich der Mitverantwortung zu verweigern. Die Forderung, Italien solle die Migranten sofort zurückschicken, ist realitätsfremd. Massenrückführungen sind nach internationalem und europäischem Recht nicht möglich. Erst müssen Verfahren laufen, erst müssen konkrete Rückführungsbedingungen mit den Herkunftsländern ausgehandelt werden. Das braucht Zeit.
Die Umwälzungen in den afrikanischen Ländern erfordern nicht nur Solidaritätsbeteuerungen oder militärische Interventionen zugunsten der Aufständischen. Die temporäre Aufnahme der Bootsflüchtlinge, die die europäischen Küsten erreichen, gepaart mit substantiellen Hilfen für die Herkunftsländer und mit Vereinbarungen über die Modalitäten der Rückführung, müssen dazu gehören. Das Treffen der EU-Innenminister in Brüssel am 14. 4. brachte gegenteilige Signale, das Verschiebespiel der Verantwortung zwischen den europäischen Ländern spitzt sich zu. Dass die italienische Regierung die Auseinandersetzung nutzt, um Stimmung gegen Europa zu machen und von den aktuellen Problemen des Landes und von Berlusconis Prozessen abzulenken, ändert daran nichts. Den Schaden tragen nicht nur die Migranten und Flüchtlinge, den Schaden trägt Europa.