Neapel sehen und sterben?
Dieser Spruch, der eigentlich die Schönheit Neapels meint, die jeder vor seinem Abgang aus dieser Welt gesehen haben müsste, klingt inzwischen wie eine düstere Prophezeiung.
Neapel versinkt unter Müllbergen. Entsetzlicher Gestank und giftige Ausdünstungen verbrannter Abfälle verpesten die heiße Sommerluft. Eine Katastrophe, die schon fast zwanzig Jahre andauert. Aber keine unvermeidliche oder gottgewollte.
Fast eine Milliarde Euro hat von 1998 bis heute der Staat zur „Lösung“ des Müllproblems ausgegeben, erfolglos. Dafür „erwirtschaftete“ die „Müll-Connection“ allein 2009 20 Milliarden Umsatz mit dem Müll aus Neapel und den anliegenden Gemeinden. Sie besteht aus der Camorra, der für Kampanien zuständigen Mafia-Organisation, und den Abfallunternehmen, Politikern und Staatsdienern, die mit ihr zusammenarbeiten. Der Camorra gehören die illegalen Müllkippen, sie dominiert das Transportgeschäft und nimmt Einfluss auf die zuständigen staatlichen Stellen. Alle Kommunalregierungen, ob rechts oder links, sind am Müll bisher nicht nur gescheitert, sondern auch Teil des Problems gewesen. Geld, Posten und öffentliche Aufträge wurden munter verteilt. Die „Müll-Connection“ ist nicht an weniger, sondern an mehr Müll interessiert. Deswegen verhindert sie auch die Umstellung auf Mülltrennung, bisher erfolgreich.
Die Zentralregierung beließ es bei ein paar spektakulären Aktionen mit kurzfristiger Wirkung, bei denen z. B. Soldaten als Müllmänner eingesetzt wurden. B. machte, wie immer, große Versprechungen: Neapel sollte in einem Monat (Juli 2008), in drei Tagen (Oktober 2010), in zwei Wochen (November 2010) vom Müll befreit werden. Nichts davon wurde eingehalten.
Jetzt will der neue Bürgermeister De Magistris die Wende bringen und schaffen, was in fast zwei Jahrzehnten nicht gelang. Er setzt beharrlich auf die Karte der Mülltrennung, die jetzt die neue Kommunalregierung beschlossen hat. Für Neapel eine, so Saviano, „Antimafia-Revolution“. Derzeit werden in Neapel 19 % der Abfälle getrennt (die EU verlangt mindestens 35 %), woran sich in der Millionenmetropole nur 140.000 Bürger beteiligen. De Magistris möchte ihre Zahl innerhalb von 3 Monaten auf zunächst 350.000 erhöhen. Er sagt, die Neapolitaner seien dazu bereit und verweist auf Tausende zustimmender Mails, die ihn nach dem Beschluss zur Mülltrennung erreichten. Doch erst müssen 2.000 Tonnen stinkenden Abfalls von den Straßen verschwinden. Es sind 10.000 Tonnen, wenn man die anliegenden Gemeinden mitrechnet. Ein Kraftakt, der nur geht, wenn auch andere Regionen einen Teil des kampanischen Mülls übernehmen. Einige, wie die Marken und Apulien, haben sich dazu bereit erklärt. Dafür ist allerdings – aufgrund eines Verwaltungsgerichtsurteils – ein nationales Gesetzesdekret notwendig. Und genau das blockiert seit Tagen die mitregierende Lega, trotz dringlicher Appelle nicht nur von De Magistris, sondern auch der Provinz- und Regionalverwaltungen von Kampanien, die von B.s PdL regiert werden. „Kein neapolitanischer Müll in den Norden!“, so die Lega-Parole. Sollen die doch in ihrem Müll ersticken. Dass auch norditalienische Unternehmen ihren Giftmüll mit Hilfe der Camorra illegal (aber dafür billig) nach Kampanien verbrachten, wen kümmert es?
De Magistris ist wütend und spricht von Sabotage: einerseits (politisch motiviert) durch die Lega, andererseits durch die Camorra (die ihre kriminellen Müllgeschäfte bedroht sieht). Die Müllbrände, die nachts von maskierten Männern gelegt werden und bei denen Dioxin entsteht, seien in erster Linie ihr Werk und nicht Protestaktionen verzweifelter Bürger.
Diese greifen in einigen Stadtvierteln zur Selbsthilfe: durch eigene „Müllverordnungen“ (Müll darf z. B. nur während der Abholzeiten durch Müllwagen rausgebracht werden), für deren Einhaltung sie selbst sorgen. Ein hoffnungsloses Unterfangen. Die Müllwagen wissen nicht mehr, wohin mit dem Abfall. Die Müllkippen sind voll. Drei neu eingerichtete „Übergangskippen“ in Neapels Umgebung, in denen der Müll bis zu 72 Stunden gelagert werden darf, bevor er weiter transportiert wird, können nicht benutzt werden, weil die Bevölkerung der betroffenen Gemeinden – angeführt von den Ortsbürgermeistern – den Zugang versperrt und die LKWs blockiert.
Die Gesundheitsbehörde von Neapel schlägt Alarm und berichtet über zunehmende Allergien und Atemwegserkrankungen, besonders bei Kindern. Einige Restaurants und Lebensmittelgeschäfte haben schon von sich aus zugemacht. Die ganze Region befindet sich in einem dramatischen Notstand, der sich im Juli und August weiter zuspitzen wird, wenn nicht sofort gehandelt wird. B. erklärt hämisch: „Seht Ihr? Der neue Bürgermeister schafft es auch nicht! Ich werde es mal wieder selbst richten müssen!“. Wenn er das tut, kann Neapel wirklich einpacken.