Die Ehrenwerten
In Italien sind die Abgeordneten „Onorevoli“ („Ehrenwerte“). Aus Respekt vor ihrem hohen Amt werden sie so angeredet,. Dass einige dieser Ehrenwerten ein eher lockeres Verhältnis zur Ehre ihres Amtes und zu Recht und Gesetz überhaupt haben, ist nichts Neues. Die Zahlen, welche die Tageszeitung „La Repubblica“ vor ein paar Tagen veröffentlichte, haben es allerdings in sich: Von insgesamt 945 Abgeordneten in Parlament und Senat stehen derzeit 84 entweder unter Anklage oder wurden bereits – in erster oder zweiter Instanz – verurteilt. Die Straftaten, die ihnen am häufigsten vorgeworfen werden, sind nicht gerade Kavaliersdelikte. Es geht um Korruption, Nötigung, Amtsmissbrauch und Begünstigung von Mafia-Organisationen.
Den Spitzenplatz hält eindeutig die PdL, mit rekordverdächtigen 49 angeklagten oder bereits verurteilten Abgeordneten. In der größten Oppositionspartei PD betrifft es 11 Abgeordnete, in der mitregierenden Lega Nord 6, in der zentristischen UDC 5, in der Gruppe der übergelaufenen „Responsabili“ 4, und zwar unbekannte Hinterbänkler wie „Prominente“. Angeführt wird die Truppe der „Ehrenwerten“ – natürlich – vom Regierungschef, der mit 6 noch laufenden (und etlichen vergangenen) Strafverfahren statistisch nicht so leicht einzuholen ist. Aber auch der Minister für Reformen und Lega-Leader Bossi zählt dazu, der in den 90er Jahren wegen illegaler Parteienfinanzierung in einer Schmiergeldaffäre rechtskräftig zu acht Monaten Haft verurteilt wurde. Zum illustren Kreis gehören auch der PdL-Senator und Berlusconi-Vertraute Dell‘ Utri (7 Jahre wegen Zusammenarbeit mit der Mafia), der kampanische PdL-Koordinator „Nick“ Cosentino (Strafverfahren wegen Verbindungen zur Camorra), der neu ernannte Agrarminister Romano (Ermittlungen aus gleichem Grund) und die frühere rechte Hand von Finanzminister Tremonti, Marco Milanese (Verdacht auf Korruption). Sowie der PdL-Abgeordnete Papa, der gemeinsam mit dem Superlobbyisten Bisignani Unternehmer, Politiker und Staatsbeamten mit illegal beschaffenen Informationen erpresst haben soll. Seine Immunität wurde vor einigen Tagen vom Parlament aufgehoben, weil die mitregierende Lega gegen die Weisungen von B. mit „Ja“ stimmte.
Anders lief eine entsprechende Abstimmung im Senat, bei der es zur Abwechslung um einen Abgeordneten der oppositionellen PD ging. Alberto Tedesco ist wegen Korruption, Nötigung und Amtsmissbrauch angeklagt, weil in seiner früheren Funktion als Gesundheitsdezernent der Region Apulien Mitglieder seiner Familie, die mit pharmazeutischen Produkten handeln, mit Aufträgen begünstigt haben soll. Obwohl seine eigene PD-Fraktion empfahl, der Aufhebung der Immunität zuzustimmen, wurde der Antrag in geheimer Abstimmung mehrheitlich abgelehnt. Die PdL-Senatoren stimmten „aus Prinzip“ dagegen (niemand, der ein politisches Amt hat, soll gerichtlich verfolgt werden können), aber es scheint, dass auch einige PD-Senatoren in zweifelhafter Solidarität mit „Nein“ stimmten.
Die PD belastet gegenwärtig noch ein weiterer Fall, der des (inzwischen zurückgetretenen) Vizepräsidenten des lombardischen Regionalparlaments, Filippo Penati. Gegen ihn wird wegen Korruption, Nötigung und illegaler Parteifinanzierung ermittelt, weil er während seiner Amtszeit als Bürgermeister eines Mailänder Industrievororts für die Vergabe öffentlicher Aufträgen im Transport- und Baubereich Schmiergelder kassiert und in schwarze Parteikassen geleitet haben soll.
Vor der Abstimmung über Papas Immunität warnte B., die Staatsanwaltschaften könnten eine Lawine ins Rollen bringen – wie zu Beginn der 90er Jahre die „Mani pulite“. Womit er Recht haben könnte. Seine Sorge gilt nicht der Befreiung des Parlaments von kriminellen Elementen und der Stärkung der demokratischen Institutionen. Im Gegenteil. Er hat Angst, dass die Justiz noch mehr Dinge ans Licht bringen könnte, die ihn und seinen Machterhalt gefährden.
Zumindest die Spitze der PD hat anders auf die Fälle in ihren Reihen reagiert. Generalsekretär Bersani erklärte, der „moralischen Frage“ müsse auch in der eigenen Partei höchste Priorität eingeräumt und der Arbeit der Justiz Vertrauen entgegengebracht werden.
Das ist auch das, was immer mehr Menschen in Italien erwarten und wofür sie sich – gemeinsam mit integren Politikern (die es noch gibt!), engagierten Journalisten und mutigen Richtern – täglich einsetzen. Bei den Kommunalwahlen im Mai haben sie dafür eindeutige Signale gesetzt und Kandidaten mit – politisch und persönlich – „moralischem“ Profil gewählt. Und bei der Volksabstimmung im Juni mit überwältigender Mehrheit ein neues Gesetz „ad personam“ gestoppt, mit dem sich B. seinen Strafverfahren entziehen wollte.