“Alle heutigen Politiker kotzen mich an”
„Tutti i politici di oggi mi fanno schifo“. Mein Neffe R. sitzt uns gegenüber, im römischen Restaurant, und sagt es zwischen Primo und Secondo. Er sagt es mit einem feinen Lächeln, leise und ohne Leidenschaft, aber abschließend. Er hat gerade sein Mathematik-Diplom gemacht und gilt als hochbegabt. Wie es mit ihm weitergehen soll, ins unklar, er wohnt noch zu Hause und hängt in der Luft wie hunderttausende andere italienische Jugendliche auch. Früher engagierte er sich in linken Jugendorganisationen, sie enttäuschten ihn, jetzt privatisiert er.
Wir Älteren am Tisch winden uns zwischen Zustimmung und leichter Gereiztheit. In der Zustimmung steckt Opportunismus, gerade weil R. so sympathisch jung und undiplomatisch ist und Opportunisten verachtet. Wir wollen es uns nicht mit ihm verderben. Zumal es ja auch gute Gründe gibt, an der italienischen Politik zu verzweifeln. Die regierende Mehrheit ist indiskutabel und die Opposition scheint konstitutionell unfähig, eine Alternative auf die Beine zu stellen. In unserer Gereiztheit steckt aber auch das Gefühl, dass verständnisinniges Kopfnicken nicht ganz ehrlich ist. Dass es trotzdem Unterschiede gibt, in der Kompetenz, in der Verderbtheit, im Korruptsein.
Wie oft habe ich mir dieses Kopfnicken schon geleistet? Aus Opportunismus, wider besseres Wissen? Was R. sagt, hörte ich den letzten Jahren oft. Nicht nur in Italien. Aber plötzlich wird mir klar, warum ich mir diesen Opportunismus nicht mehr leisten kann. Draußen durchweht ein Sturm das Land. Während R. darlegt, dass mit den Politikern, die gegenwärtig um die Macht pokern, alles keinen Zweck hat, erobern sich Tausende von anderen jungen Leuten die Lust zurück, selbst Politik zu machen. Indem sie Stadtteilkomitees zur Unterstützung von Kandidaten gründen, die scheinbar keine Chance haben. Indem sie von Haustür zu Haustür gehen, um für die Beteiligung an Volksabstimmungen zu werben, die sie vorher selbst durchsetzten. Gegen den Widerstand aller großen Parteien. Indem sie das Internet nutzen, um sich zu verständigen. Wogegen das Fernsehen, das so übermächtige, plötzlich machtlos und bedeutungslos wird.
Vielleicht ist es nur die Gunst des historischen Moments. Aber wer mitmacht, für den verändert sich alles. Nun sortiert sich die politische Landschaft neu, zeigen sich Unterschiede. Aus bisherigen „Extremisten“ werden phantasievolle Neuerer, aus unsicheren Kantonisten Bündnispartner, die bereit sind, den Karren mitzuziehen. Auch im Block der Gegner, der bisher so massiv schien, zeigen sich Risse Vor allem: Aus einer Generation, die verdammt schien, nur Opfer zu sein, werden Menschen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. Und die dabei auch anderen Generationen die Chance geben, mitzumachen.
Wer in dieser Situation noch sagt, dass ihn alle Politik und alle Politiker „ankotzen“, der sagt auch etwas über sich selbst. Nämlich wie schwer es ihm fällt, vom Podest der Überlegenheit, welche lange die eigene Hoffnungslosigkeit kompensierte, wieder herabzusteigen. Dort oben war man wenigstens unangreifbar. Es birgt Risiken, die Opferrolle zu verlassen. Wer handelt, macht Fehler, kann werden „wie die Anderen“. Jeder muss wissen, was er daraus folgert.
Diese kleine Rede hätte ich meinem Neffen R. damals im römischen Restaurant halten sollen. Ich halte sie ihm jetzt und schicke ihm die italienische Übersetzung. Ich denke, sie entlockt ihm bestenfalls ein nachsichtiges Lächeln. Ich halte sie ihm trotzdem. Denn dieses „Tutti i politici mi fanno schifo“ kann ich nicht mehr hören.