Unter Vormundschaft
Am 3. August hatte sich B., unter dem Druck der Opposition und der Finanzmärkte, endlich bequemt, seine Villa in Sardinien zu verlassen und im Parlament eine Erklärung zur Finanzkrise abzugeben. Tenor: „Kein Vorziehen des Sparpakets, Italien ist solide, die Finanzmärkte haben Schuld, die Regierung hat alles richtig gemacht, ich bleibe im Amt.“ Die Rede „von jemand, der auf dem Mond lebt“, wie Oppositionsführer Bersani erbittert kommentierte. Die Antwort der Finanzmärkte am nächsten Tag war bekanntlich katastrophal.
Zwei Tage später, auf einer überraschend einberufenen Pressekonferenz, hieß es plötzlich: „Italien steht ganz besonders unter der Beobachtung der Finanzmärkte… Die Situation spricht dafür, die Maßnahmen zu beschleunigen“. Jetzt sollte geschehen, was B. eigentlich um jeden Preis vermeiden wollte: Das Vorziehen des Sparpakets auf 2012 (statt 2013, die Zeit nach den Wahlen).
Ein unerklärlicher Sinneswandel, oder gar die Erleuchtung einer Bunga-Bunga-Nacht? Nein, es war Post aus Frankfurt angekommen. In einem vertraulichen Brief diktierten ihm EZB-Präsident Trichet und dessen designierter Nachfolger Draghi (derzeit noch Chef der italienischen Notenbank) die Bedingungen, unter denen die EZB bereit sei, italienische Staatsanleihen zu kaufen, um sie vor spekulativen Angriffen zu schützen: 1. Vorziehen des Sparpakets 2. Verankerung der Schuldenbremse in der Verfassung 3. Umfassende Liberalisierung. Es waren genau die Punkte, die B. dann auf der Pressekonferenz brav herunter betete.
Was als souveräne Entscheidung der Regierung ausgegeben wurde, war in Wahrheit die von den „tugendhaften“ EU-Staaten – vor allem Frankreich und Deutschland – gestellte Kondition für ihre Zustimmung zur EZB-Intervention. Vor allem Deutschland hatte sich lange gegen diese Intervention gesträubt. In hektischen Konsultationen – bei denen B. zunächst außen vor blieb – wurde sie zwischen Trichet, Sarkozy und Merkel ausgehandelt. Am Abend des 7. 8., kurz vor der Eröffnung der Börsen am Montag, loben Merkel und Sarkozy in einem gemeinsamen Kommuniqué die (angeblich von Italien, tatsächlich von ihnen selbst) getroffenen Entscheidungen und mahnen dringlich, sie nun auch schnell und konsequent umzusetzen.
Die Opposition ist in Aufruhr. Bersani spricht von einer „unter Vormundschaft gestellten Regierung“ und verlangt die förmliche Unterrichtung des Parlaments über den Inhalt des EZB-Briefes. IdV-Chef Di Pietro fordert vorgezogene Neuwahlen, der „Terzo Polo“ von Casini, Fini und Rutelli signalisiert Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit der Regierung, wobei unklar bleibt, ob er als Voraussetzung den Rücktritt B.s erwartet.
Unklar ist auch, woher die etwa 20 Milliarden für das Vorziehen des Sparpakets kommen sollen. Aber es zeichnet sich ab, dass sie (fast) ausschließlich zu Lasten der mittleren und kleinen Einkommen gehen werden: Streichung von Sozialleistungen, vorgezogene Heraufsetzung des Rentenalters, umfassende Privatisierungen, weitere Flexibilisierung und Liberalisierung des Arbeitsmarktes, evtl. Erhöhung der Mehrwertsteuer und Gehaltskürzungen im öffentlichen Dienst. Finanzminister Tremonti zum Thema Liberalisierung: „Alles wird erlaubt sein, was nicht ausdrücklich verboten wird“. Dazu soll Art. 41 der Verfassung geändert werden. Aus dem jetzigen Text „Die wirtschaftliche Privatinitiative ist frei. Ihre Ausübung darf sich jedoch nicht gegen das Gemeinwohl richten oder die Sicherheit, die Freiheit und die Menschenwürde verletzen. Das Gesetz sieht geeignete Maßnahmen und Kontrollen vor, damit öffentliche und private wirtschaftliche Tätigkeiten auf soziale Ziele hin ausgerichtet werden“ soll die gesperrte Passage gestrichen werden. Es wäre ein weiterer Etappensieg für den Neoliberalismus.
Bei der Streichung von Privilegien für Politiker und Staatsbürokraten und bei der Einführung einer Vermögenssteuer, wie sie Gewerkschaft und Opposition fordern, hält sich die Regierung hingegen dezent zurück. Auch drastische Maßnahmen gegen Steuerhinterziehung und Kapitalflucht, die dem Staat jährlich Milliarden kosten, stehen nicht oben auf der Agenda. Kein Wunder, ist doch der Regierungschef selbst in diesem Bereich erfolgreich tätig.
Der „Vormundschaft“, unter die seine Regierung gestellt wurde, dürfte B. insgeheim auch ein paar gute Seiten abgewinnen. Denn sie verdrängt sowohl seine senilen Eskapaden als auch die krachenden Wahlniederlagen der letzten Monate von den Titelseiten. Und wenn, wie zu erwarten, das Volk nun gegen die Sanierungsmaßnahmen aufbegehrt, kann er die Schuld auf EZB, Merkel und Sarkozy abladen. Wer unter Vormundschaft steht, trägt ja keine Verantwortung mehr.