Ein kranker Mann

„Der Mann ist doch krank“, kann man häufig hören, wenn Kenner der italienischen Verhältnisse über B. urteilen, auch in Deutschland. Man meint damit die extreme Mischung von Sexbesessenheit, Vulgarität und egomanischer Amoralität, die er verkörpert. Das Wort „krank“ hat hier einen eher metaphorischen Sinn. Aber vielleicht sollte man sich dem Gedanken öffnen, dass er auch im klinischen Sinn krank ist. Als sich seine Frau Veronica Lario vor einigen Jahren von ihm trennte, gab sie es erstmals zu Protokoll. Sie sagte es nach jahrzehntelanger Ehe, mit Trauer und ohne Häme. Und da sie hinzusetzte, er brauche eine Therapie, ist es ernst zu nehmen. Es bedeutet, dass in das Urteil über B. auch ein Hauch von Mitleid einfließen kann, wie über jeden Menschen, der krank ist. Was allerdings nichts daran ändert, dass es ein Unglück für Italien ist, von einem solchen Mann regiert zu werden.

Aus diesem Grund sind die Anzeichen einer Krankheit nicht seine Privatsache. Zunächst: Um welche Krankheit handelt es sich? Ich bin weder Arzt noch Psychologe, aber es scheinen in der laufenden Diskussion vor allem zwei Begriffe zu sein, die sein spezifisches Krankheitsbild erfassen: „Satyriasis“ und Todesangst.

Unter „Satyriasis“ (in der heutigen Fachsprache auch „Sexsucht“ genannt) leiden Menschen, die von dem andauernden Wunsch nach sexueller Befriedigung getrieben werden, aber sich auch bei mehrfacher sexueller Betätigung am Tag nicht die erwünschte Befriedigung verschaffen können. Wobei offen bleibt, ob diese Unbefriedigtheit eher physisch oder eher psychisch ist. In der Literatur wird vor allem der Leidensdruck betont, unter dem die betroffenen Personen stehen, das Gefühl des Zwanghaften, der Getriebenheit, der Macht- und Auswegslosigkeit, das sich bei ihnen einstellt. Im speziellen Fall von B. ist allerdings unklar, ob er diesen Leidensdruck überhaupt an sich herankommen lässt. Dafür ist er einerseits zu egoman, andererseits auch zu sehr das Produkt einer machistischen Volks-„Kultur“, in der es eher Respekt einflößt, mit 75 noch ein so toller Hecht zu sein (Tarantini: „Wie machen Sie das bloß, Presidente?“). Eine Kultur, die auch dem Satyriasis-Kranken genug Gratifikationen bietet, um das Gefühl anhaltender Unbefriedigtheit zu übertönen.

Das zweite Stichwort ist pathologische Todesangst. B.s Fluchtverhalten gegenüber dem Tod und allen Erscheinungen des Alterns ist offensichtlich. Transplantierte Haare, geliftetes Gesicht, festgefrorenes Lächeln, federnder Gang: Alles soll unverbrauchte Vitalität signalisieren. Dazu gehört auch, dass er sich mit immer jüngeren Frauen umgibt – er, der 75-Jährige, der jede Frau für „alt“ und verbraucht erklärt, die über 30 ist. Und von denen ihm sein Zuhälter Tarantini regelmäßig berichten muss, dass sie ihn als Sexualathleten für immer noch toll halten. Allerdings ist auch B.s Todesangst in eine Volkskultur eingebettet, die ihren pathologischen Erscheinungsformen den Anschein der Normalität gibt (bekanntlich greifen sich viele italienische Männer, an denen ein Leichenzug vorbeikommt, ans Geschlechtsteil, um sich zu versichern, dass „da noch Leben ist“).

Angesichts dieser Volkskultur und seiner besonderen Egomanie verhallen denn auch die bestgemeinten Ratschläge, B. solle sich in eine Therapie begeben. Er denkt daran ebenso wenig wie an seinen Rücktritt. Dass B. wahrscheinlich krank ist – das eigentlich dazu gehörige Mitleid will sich angesichts der Verantwortungslosigkeit, mit der B. seine Krankheit auslebt, kaum einstellen -, macht die Sache für Italien nicht besser. Es wird von einem Mann regiert, der sich nicht unter Kontrolle hat. Der nicht nur erpressbar ist, sondern nachweislich längst erpresst wird: von Huren, Zuhältern, Gaunern und Mafiosi. Sie bilden den Hofstaat, den er täglich mit Geld, Aufträgen und politischen Posten versorgen muss. Und den er – wie sich selbst – vor der Justiz schützen muss. Schon ohne B. liegt in Italien vieles im Argen, aber mit ihm, dem kranken Mann, verfault das Land auch von der Spitze her.