B. versinkt im eigenen Sumpf
Vor einer Woche tat er noch, als ob er vor Kraft nicht laufen konnte. Das Gesetz gegen das Abhören von Telefonaten – seiner Telefonate, klar – sollte endlich verabschiedet werden, ebenso das Gesetz zur schnelleren Verjährung von Straftaten – seiner Straftaten, ebenso klar. Die zusammengekaufte parlamentarische Mehrheit schien sicher.
Und dann stolpert er über so etwas. Am Dienstag stand im Parlament „Routine“ an: die von der Verfassung vorgeschriebene Abstimmung über den abschließenden Rechenschaftsbericht für den Haushalt 2010. Normalerweise entzünden sich an ihm keine Leidenschaften, es geht um „Schnee von gestern“. Aber als das Abstimmungsergebnis auf der elektronischen Anzeige erschien, erfasste ungläubiges Staunen Regierung wie Opposition: 290 dafür, 290 dagegen. Also keine Mehrheit, der Bericht war durchgefallen.
Man muss in der italienischen Parlamentsgeschichte lange nach einem ähnlichen Fall suchen. In Deutschland stelle man sich einen Verein vor, der den Bericht des Vorstands über sein Finanzgebaren vom letzten Jahr zurückweist. Sein Rücktritt wäre selbstverständlich.
Nicht so für B., ihn wird man mit den Füßen zuerst aus dem Amt tragen müssen. Aber unter der Tünche seines Make-ups soll er aschfahl geworden sein. Natürlich erklärte er umgehend, dies sei nur „eine technische Panne“, die umgehend „behoben“ werde. Was einiges über seinen Respekt vor parlamentarischen Entscheidungen aussagt – und seinen Realitätssinn. Denn Entscheidungen über den neuen Haushalt setzen das Ja zum alten Rechenschaftsbericht voraus, und das Parlamentsrecht verbietet die Wiederholung einer Abstimmung. Da muss sich B. nun irgendwie rauswinden. Staatspräsident Napolitano richtete sofort die öffentliche Anfrage an B., ob seine Regierung noch den „notwendigen Zusammenhalt“ habe, um in Italiens gegenwärtiger Bedrängnis (Haushalt, Wachstum) überhaupt politikfähig zu sein – und dass er sich darauf „eine glaubhafte Antwort“ erbitte. Wozu B. nur einfiel, für Freitag eine erneute Vertrauensabstimmung anzusetzen. Es ist die einundfünfzigste, die vierte in diesem Jahr.
Erheblich aussagekräftiger für den Zustand der Regierungskoalition ist das Verhalten der Abgeordneten, die nicht an der Abstimmung teilnahmen. Finanzminister Tremonti, zu dessen Aufgaben die Vorlage des Rechenschaftsberichts fällt, soll das Ende der Abstimmung „hinter einer Säule“ abgewartet haben. Bossi ließ sich in der Vorhalle von einem Journalisten interviewen. Ein Abgeordneter der „Responsabili“, die B. aus der Opposition in die Koalition eingekauft hat, war „gerade beim Blutdruckmessen“. Ein anderer begleitete seine „Mutter zum Gericht“. Ein dritter meinte schelmisch, es gebe Abgeordnete, „die nicht ganz zufrieden sind mit dem, was man ihnen bisher versprochen hat“. Dies dürfte fast die Wahrheit gewesen sein: B.s Ganoven fordern ihren Tribut. Sie wissen, dass sie sich für eine verlorene Sache einkaufen ließen, und wollen rausschlagen, was noch rauszuschlagen ist. Für sie war die Nicht-Teilnahme an der Abstimmung eine Warnung, um die Preise hochzutreiben. Als B. Freitag die Vertrauensfrage stellte, standen sie wieder „geschlossen“ hinter ihm – die Kuh, die man melken will, muss noch leben (B. gewann die Abstimmung 316 zu 301).
Als Reaktion auf den Reinfall vom Dienstag legte B. das Gesetz gegen das Abhören seiner Telefonate erst einmal auf Eis. Der Ausgang der Abstimmung war zu unsicher geworden. Zunächst soll sich die Koalition ganz auf das Verjährungsgesetz konzentrieren, damit B. wenigstens im Fall Mills (Richterbestechung zugunsten von B.s Medienkonzern) ungeschoren davon kommt Das Verjährungsgesetz würde Hunderttausende von laufenden Prozessen zur Makulatur machen. Aber was soll’s, für B. geht es um viel Geld, vielleicht auch um Gefängnis. Und nur das zählt. Wozu hat er sich sonst soviel Mühe gegeben, Geld investiert, Posten zugeschanzt, um die nötige Mehrheit zusammen zu bekommen? Wozu ging er überhaupt in die Politik? Auch wenn das Rechtssystem auf der Strecke bleibt, B.s persönliche Kosten-Nutzen-Rechnung muss aufgehen. Italien haftet.