Mutis Wut
Im vorletzten Beitrag schrieb ich, zur Überwindung des Berlusconismus brauche Italien eine „Kulturrevolution“. Und meinte damit eine im Alltag beginnende Umwälzung, beispielsweise im Umgang mit Steuern, damit die kleinen Betrügereien nicht mehr auf das augenzwinkernde Einverständnis (fast) aller stoßen. Da es eine Notwendigkeit ist, die auf der Hand liegt, hatte ich das Wohlgefühl dessen, der Recht hat.
Aber ich bin ein Heuchler. Denn obwohl ein „Deutscher“, sogar aus dem Norden, habe ich mich lange genug in Italien aufgehalten, um eigentlich zu wissen, wie schwer es umzusetzen ist. Zumal ich, recht bedacht, schon hundertmal selbst zum Komplizen der Alltagskorruption wurde.
In unserem italienischen Dorf gibt es ein Restaurant, dessen Wirt ich gut kenne. Wir begrüßen uns mit Umarmung und Küsschen links, Küsschen rechts. Man isst gut bei ihm, und wenn es ans Bezahlen geht, krakelt er etwas auf einen kleinen Zettel, wobei immer eine ebenso niedrige wie runde Summe herauskommt. Ob ich nun den Zettel mitnehme oder auf dem Tisch lasse: Wir wissen beide, dass er anschließend verschwindet – er ist nichts zum Aufheben. Wir sind ja Freunde, da ersparen wir uns Pingeligkeiten.
Auch der von uns oft zu Hilfe gerufene Maurermeister ist mein Freund geworden. Wir stärken das zwischen uns bestehende Band, indem wir jedes Mal, wenn wir uns sehen, gemeinsam über die Korruptheit der italienischen Politiker schimpfen. In Gelddingen ist er uns gegenüber korrekt, an seine „Preventivi“ hält er sich. Aber eine Frage wird erst geklärt, wenn der Auftrag erledigt ist: „Und was schreibe ich in die Rechnung?“ Jeder weiß, was diese Frage bedeutet: Von der Summe, die auf der offiziellen Rechnung erscheint, hängt das Einkommen ab, das er am Jahresende versteuern muss, und die (auch in Italien hohe) Mehrwertsteuer, die wir bezahlen müssen. Seine Frage ist das implizite Angebot, im beiderseitigen Interesse den offiziellen Rechnungsbetrag herunter zu frisieren. Freunde müssen ja zusammen halten, beschissen wird „nur der Staat“. War meine Antwort auf diese Frage immer protestantisch korrekt? Natürlich! (Und nachdem ich die Finger wieder entkreuzt habe:) Das tun ja alle. Es geht manchmal um ganz hübsche Sümmchen. Und dann eben: die Freundschaft.
Man sieht, warum so schwer zu tun ist, was leicht zu fordern ist: der Bruch mit den kleinen Alltagsbetrügereien, die sich ja meist „nur“ gegen den Staat richten. In die Macht der Gewohnheit ist nicht nur die Eigensucht, sondern fast immer auch das hehre Band der Freundschaft eingewebt. Und Freundschaft wärmt, ist ein Wert, ist heilig.
Worauf ich hinaus will? Auf das Lob eines öffentlichen Wutausbruchs, den der berühmte Dirigent Riccardo Muti dieser Tage hatte, als ihm ein Preis aufgrund seiner „hohen künstlerischen und moralischen Verdienste“ zugesprochen wurde. Der Maestro nahm es zum Anlass, um in einem Radiointerview über diejenigen unter seinen hochbezahlten Kollegen zu schimpfen, die ihren offiziellen Wohnsitz ins Ausland verlegen, um sich der Besteuerung durch den italienischen Staat zu entziehen. Und dann weiterhin in Italien Dienstleistungen in Anspruch nehmen, an deren Finanzierung sie sich nicht mehr beteiligen. Jeder könne ja machen, was er wolle, so Muti, aber was er „nicht ertrage“, das seien diejenigen, die „einen Wohnsitz im Ausland nehmen und dann aufs eigene Land spucken“.
Neben der alltäglichen Steuerhinterziehung ist Steuerflucht eines der großen Probleme Italiens, größer noch als in Deutschland. Wenn ein Riccardo Muti über sie öffentlich zu schimpfen beginnt und damit nicht wenige seiner Kollegen, Bekannten und wohl auch Freunde verprellt, ist das ein erster Riss in der Mauer des Einverständnisses, die diesen Sport der Reichen umgibt. Was vielleicht zum Anstoß dafür werden könnte, ein paar Breschen auch in die andere Mauer der Komplizität zu schlagen, hinter der fast ganz Italien den Breitensport Steuerhinterziehung betreibt. Der Deutsche aus dem protestantischen Norden hätte dafür in seinem italienischen Dorf sogar einen Startvorteil. Aber auch er müsste sich dazu im Sinne eines seiner früheren Bundespräsidenten „einen Ruck geben“. Denn einige seiner dörflichen Freundschaften könnte das schon strapazieren.