Der Preuße und der Neapolitaner
Stellen Sie sich vor, sie kehrten von einem längeren Urlaub auf einer einsamen Insel zurück, wo es weder Zeitungen noch Internetzugang gab, und man würde Ihnen nach Ihrer Rückkehr folgende Rätselfrage stellen: „Es gibt zwei Staatspräsidenten, der eine kommt aus Neapel, der andere aus der norddeutschen Tiefebene. Einer davon beschaffte sich über befreundete Unternehmer günstige Kredite, machte in deren Villen auf Mallorca und in Italien mehrmals Urlaub und nahm von ihnen auch andere Vergünstigungen an. Gegenüber der Öffentlichkeit gibt er ausweichende Antworten und laviert herum. Wer von beiden ist es?“. Na, Hand aufs Herz: Was würden Sie spontan antworten? Das kann doch nur der Neapolitaner sein!
So kann man sich täuschen. Italiens Staatspräsident Napolitano ist ein würdiger alter Herr, dessen moralische Gradlinigkeit und untadelige Lebensführung nicht einmal seine ärgsten Feinde (z.B. Berlusconi) in Zweifel ziehen. Er füllt sein Amt mit Autorität und Bescheidenheit aus. In den krisenhaften Stunden vor und nach dem Rückritt B.s garantierte er die Handlungsfähigkeit des Landes. Bei den Bürgerinnen und Bürgern genießt er höchstes Ansehen, seine Zustimmungswerte liegen über 90%. US-Präsident Obama nennt ihn „einen großen Gentleman mit absoluter Integrität und einen moralischen Leader“.
Schwer vorstellbar, dass man heute den deutschen Staatspräsidenten so charakterisieren würde. Nicht allein wegen der nach und nach durchsickernden Informationen über die fragwürdige Vermischung von Privatinteresse und Politik in seinen Beziehungen zu Unternehmern, sondern auch wegen der Art, wie er auf diese Informationen reagiert. Erst schweigen und hoffen, der Sturm legt sich. Dann, als das nicht mehr geht, die Erklärung: „Ich sehe ein, nicht alles, was juristisch rechtens ist, ist auch richtig“. Na toll. Der Bundespräsident, der qua Amt moralisches Vorbild sein sollte, erkennt so etwas erst, wenn es ihm an den Kragen zu gehen droht.
Warum dieser Vergleich? Weil es bei Klischees manchmal ratsam ist, die Perspektive zu wechseln. Italien gilt in Deutschland als Ort der Korruption, der mafiösen Gefälligkeiten und notorischen Lügner. Da ist viel Wahres dran. Doch auch Deutschland hat keinen Grund, sich entspannt zurückzulehnen. Steuerhinterziehung, Korruption, unsaubere Verquickungen von Politik und Wirtschaft und ein fragwürdiges Verhältnis zur Wahrheit sind auch hier keine Seltenheit. Vom Schweigen des Altkanzlers in der Spendenaffäre über den Lügenbaron bis zu den gegenwärtigen Verstrickungen des höchsten Mannes im Staat: es gibt genug Gründe, sich um kritische Entwicklungen auch hier zu sorgen.
Sicherlich sind der Verbreitungsgrad und die Schwere der Fälle in Italien und Deutschland nicht vergleichbar. Dennoch: Moral und Unmoral verteilen sich nicht nach geographischen Gesichtspunkten und sind auch nicht Ergebnis von süd- oder nordländischen Mentalitäten. Es gibt „Neapolitaner“ in Deutschland und „Preußen“ in Italien – sogar in Süditalien! Ob Neapel oder Hannover, ob Mittelmeer oder Nordsee: Die Versuchungen der Macht ähneln sich. Als Korrektiv dienen freie Medien, unabhängige Gerichte, eine wache Öffentlichkeit und das Engagement der Bürger. Wenn sie funktionieren. In Italien wie in Deutschland.
Schlussbemerkung: der Anstoß zu dieser Betrachtung gab uns unser Freund und Mitautor Calle Macke, ein kluger Kenner der deutschen wie der italienischen Wirklichkeit. Er meinte, die Redaktion von „Aussorgeumitalien“ sollte sich endlich mal auch Sorgen um Deutschland machen. Kein Italiener käme auf die Idee, ihr Staatspräsident könnte seinen Urlaub in irgendeiner Unternehmer-Finca verbringen. Wir „Hannoveraner“ seien also geradezu verpflichtet, auch einmal auf den Sumpf vor der eigenen Haustür aufmerksam zu machen. Recht hat er.