Krise hautnah

Es regnete am Abend des 18. April, als sich vor dem römischen Pantheon eine schweigende Menge versammelte. Mit brennenden Kerzen unter den aufgespannten Schirmen gedachte man der Menschen, welche die Krise in den letzten Monaten in den Tod trieb. Es war eine „transversale“ Versammlung, Arbeiter standen neben Unternehmern. Selbstmord kennt keine Klasse. Es gab ihn bei Leuten, die ihre Arbeit verloren, bei Pensionären, die von ihrer gekürzten Rente nicht mehr leben können. Und auch bei vielen kleinen und mittleren Unternehmern. Für römische Verhältnisse war die Versammlung klein, nur etwa tausend Menschen hatten sich zusammengefunden. Zwar beeindruckt das katholische Verdikt gegen Selbstmörder kaum noch jemanden, aber das Thema mobilisiert nicht, es macht nur depressiv.

Dass die Regierung Monti Italien eine notwendige Kur der Sparsamkeit verordnete, aber unter dem Diktat von Brüssel und Merkozy zu wenig für das wirtschaftliche Wachstum tut, beschreibt die ökonomische Seite der Wirklichkeit. Psychisch hat Monti Italien (vorerst) von dem Alptraum B. befreit, aber ohne „Aufbruchstimmung“. Wie Mehltau liegt Bedrücktheit über dem Alltag vieler Menschen.

Italien befindet sich in der Rezession, und vieles deutet darauf hin, dass sie noch schwerer wird. In der Groß- und Mittelindustrie werden Hunderttausende auf Kurzarbeit gesetzt, und kaum jemand glaubt, dass es sich um vorübergehende Maßnahmen handelt, sondern dass es eher das Vorspiel zu Massenentlassungen ist. Die Lage vieler Kleinunternehmen – aus denen die häufigsten Selbstmord-Meldungen kommen – ist noch auswegsloser, denn sie leiden nicht nur unter sinkender Inlandsnachfrage, riesiger Steuerlast und gnadenloser Bürokratie, sondern auch unter fehlender Liquidität und immer stockenderem Geldverkehr.

Eine Schlüsselrolle kommt den Banken zu. Früher war es ihre „natürliche“ Funktion, den Wirtschaftskreislauf aufrecht zu erhalten, indem sie gesunden Unternehmen, die größere Investitionen planten, mit Krediten versorgten Aber obwohl sie die EZB mit Billiggeld überschwemmte, haben sie begonnen, unter Verweis auf neue „interne Richtlinien“ zur Liquiditätssicherung keine Kredite mehr zu vergeben – unser Freund A., der eine kleine, aber hoch technisierte landwirtschaftliche Familienkooperative betreibt, berichtet, dass ihm seine Bank solche Kredite seit einiger Zeit verweigert und ihm stattdessen einen Schuldentilgungsplan abverlangt, der nicht nur härter als früher ist (11 % Zinsen, für ausbleibende Raten dürfen keine Zahlungspläne mehr verhandelt werden), sondern ihn auch zwingt, das Anlagevermögen seiner Kooperative als Sicherheit einzubringen.

Auch der Staat trägt zum Stocken des Geldumlaufs bei, obwohl er seinen Bürgern Termintreue für immer höhere Gebührenzahlungen abverlangt. Dass eine Kommune oder Region ein lokales Unternehmen mit einer Leistung beauftragt, sich dann aber mit deren Bezahlung mehr als ein Jahr (manchmal sogar über drei Jahre) Zeit lässt, ist inzwischen die Regel, obwohl eine EU-Direktive dafür nur maximal zwei Monate erlaubt. So wird der ersehnte „Staatsauftrag“ zum Alptraum, denn aus dem Geld, das der Staat anschließend den Unternehmen schuldig bleibt, müssten diese ihre Löhne und Verbindlichkeiten bezahlen. Nicht selten kommt es zur Absurdität, dass ein Unternehmen bankrott geht, weil es nicht mehr seine Steuern und Abgaben an die Gemeinde zahlen kann – weil die Gemeinde ihre Schulden gegenüber dem Unternehmen nicht bezahlt und die Banken keine Überbrückungskredite geben. Die Idee, dass beide Seiten ihre wechselseitigen Schulden gegeneinander verrechnen, ist naheliegend, aber offenbar nicht umzusetzen.

Dann sollen wenigstens die Steuerhinterzieher bluten! Bis vor kurzem habe ich noch selbst in diesen Chor eingestimmt. Was mich nachdenklich macht, ist unser Freund R., der am Meer einen Kiosk betreibt und dessen mittägliche Spaghetti con Vongole bei einer Flasche Wein am rauschenden Meer ein hoher Genuss sind. Er ist Mitte 30, voller Unternehmungsgeist, hat zwei kleine Kinder und diesen Kiosk hochgebracht. Vor ein paar Tagen gestand er mir unter Verweis auf die Selbstmorde, welche die Titelseiten beherrschen: „Jetzt habe ich Angst. Wenn zu mir die Steuerprüfer kommen und ernsthaft nachschauen würden, wüsste ich nicht mehr weiter“. Er gehört zur Generation derer, die sich meist von einer prekären Arbeit zur nächsten hangeln und von der jeder Dritte sowieso arbeitslos ist. Vor vier Jahren entschloss sich R. zu dem Schritt, der ihm allseitiges Schulterklopfen einbringen müsste: Er gab sich einen „Ruck“, er „machte sich selbständig“. Aber was ist das für ein Land, in dem das nur geht, wenn man Steuern hinterzieht?

Die Steuerhinterziehung zerfrisst Italien wie ein Krebsgeschwür. Aber es gibt auch für sie keine Ein-Punkt-Lösung. Dafür ist die wirtschaftliche Situation viel zu verfahren.

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