Steuerhysterie
Kein Mensch zahlt Steuern aus Lust, das ist klar. In Italien nicht und in Deutschland auch nicht. Und es gibt genug Gründe, sich über ihre ungerechte Verteilung aufzuregen, in Italien wie in Deutschland. Aber was derzeit in Italien geschieht, hat hysterische Züge angenommen, die mich beunruhigen und auch mit Zorn erfüllen
Bekanntlich trat die Monti-Regierung ihren Job in einer höchst krisenhaften Situation an, kurz vor dem Abrutschen in einen Staatsbankrott griechischen Ausmaßes. Was auch B. und seiner Truppe zu verdanken war, die verantwortungslos (nicht) handelten und sich lieber um die persönlichen Geschäfte des Cavaliere als um Strukturreformen kümmerten. Und den Italienern erzählten, es gäbe gar keine Krise, im Gegenteil: Italien stehe besser da als alle anderen europäischen Länder.
Nach den Lügenmärchen nun die bittere Wahrheit. Sie bringt soziale Einschnitte, Einschränkungen des Kündigungsschutzes, die Heraufsetzung des Rentenalters und nicht zuletzt den Kampf gegen die von B. gepriesene Steuerhinterziehung (die dem Land Hunderte von Milliarden jährlich kostet), sowie höhere Gebühren und neue Steuern, u. a. die Wiedereinführung der von B. 2008 abgeschafften Immobiliensteuer (womit er damals die Wahlen gewann).
Nun gibt es einen Regierungschef, der nicht mehr Steuerhinterziehung für legitim erklärt, sondern dass es die Pflicht aller ist, Steuern zu zahlen – denn ohne Steuern keine Dienstleistungen, keine Infrastrukturen, kein Sozialstaat, keine Unterstützung für Bedürftige, keine Erleichterung für Unternehmen – und dass Steuerhinterzieher Betrüger auf Kosten anderer sind. Aussagen, die in jedem anderen Land Banalitäten wären. Doch viele Italiener scheinen das anders zu sehen. Sie betrachten Steuern als räuberischen Akt, als schändlichen Übergriff. Der Staat wird als fremde Gewaltinstanz und als Dieb angesehen. Folgerichtig sind diejenigen, die im staatlichen Auftrag Steuern einziehen und Steuerhinterzieher verfolgen, Räuber und Halunken, die unbescholtenen Bürgern ihr hart verdientes Geld gewaltsam abzuknöpfen versuchen.
Übertrieben? Die Gesellschaft „Equitalia“, zuständig für Steuereinzug und Steuerfahndung, ist in Italien die meistgehasste Institution. Nach Angaben seines Leiters wurden gegen seine Filialen und Mitarbeiter innerhalb eines Jahres 270 Anschläge und Übergriffe verübt. Brandsätze, Briefbomben, Molotowcocktails in der ganzen Republik, im Süden wie im Norden: von Foggia bis Livorno, von Olbia bis Mailand, von Rom bis Neapel. In Termini Imerese besetzten die von Entlassung bedrohten Arbeiter nicht etwa das Büro der Firmenleitung, sondern das von Equitalia. In Mailand schlug ein Unternehmer einen Steuerfahnder, der bei ihm eine Kontrolle durchführen wollte, mit Faust- und Fußtritten krankenhausreif. In Bergamo stürmte ein Geschäftsmann wild um sich schießend eine Filiale und nahm 12 Leute stundenlang in Geiselhaft. Viele seiner Mitbürger waren voll Mitgefühl (für den Amokläufer), im Netz wurde er als Held gefeiert. Es hieß, er sei pleite und aus Verzweiflung durchgedreht, weil er nicht 40.000 Euro Steuerschulden zahlen konnte. Dann stellte sich heraus, dass er gar keine Geldsorgen hat und es nur um ausstehende Fernsehgebühren in Höhe von 1.400 Euro ging. Den verblüfften Untersuchungsrichtern, die fragten, warum er so lange nicht gezahlt hätte, erklärte er schlicht: „Ich kann Steuern nicht ertragen, ich hasse sie halt“. Steuern seien ungerecht („das sagt auch das Fernsehen“) und er hätte „ein Zeichen setzen wollen“. Im Namen der Gerechtigkeit.
Parteien wie die Lega Nord und die PdL, aber auch Grillo, reiten auf dieser Welle und heizen die Stimmung zusätzlich an. Steuern sind wie „Pizzo“ (Schutzgeld), erklärt der ehemalige Innenminister Maroni und setzt damit die Regierung mit der Cosa Nostra gleich. Andere gehen nicht so weit, aber zeigen „Verständnis“ und halten etwa die Immobiliensteuer – die in ganz Europa gang und gäbe und in Italien niedriger als in anderen Ländern ist – für „ungeheuerlich“. Die Mittelinks-Parteien (PD, IdV, SEL) stimmen zwar in diesen Chor nicht ein und setzen zu Recht den Akzent auf eine gerechtere Lastenverteilung und auf die Einführung einer Vermögenssteuer, aber auch sie halten sich auffällig zurück, wenn es darum geht, Angriffe auf Equitalia ohne Wenn und Aber zu verurteilen oder militante Steuerproteste zu kritisieren.
Was dringend notwendig wäre. Denn jenseits aller berechtigten Umverteilungsdiskussionen schwingt in diesem wütenden Hass vieler Bürger gegen staatliche Abgaben ein tief reaktionärer Grundton mit. Eine „vorbürgerliche“ Einstellung, die ihre Wurzeln eher in einem feudalen als in einem modernen demokratischen Staatsverständnis hat. In ihr hat der Staat mit dem Volk – und umgekehrt – nichts zu tun. Misstrauen gegenüber jedem staatlichen Handeln ist angesagt, vor dem man sich nur schützen muss, um sich und seine Familie über die Runden zu retten. In diesem Verständnis klingen Begriffe wie Gemeinwohl und „res publica“ nur bedrohlich. Dass „der Staat wir sind“, klingt wie Hohn.
Es ist eine alte Krankheit, die ihre Ursachen in der von Fremdherrschaft geprägten Geschichte Italiens hat. In diesen krisenhaften Zeiten wird sie auf gefährliche Weise wieder virulent. Es ist an den fortschrittlichen Kräften dieses Landes, gegen jede populistische Versuchung das Thema offensiv anzugehen und für ein demokratisches, von bürgerlicher Verantwortung und von sozialer Gerechtigkeit geprägtes Staatsverständnis zu werben.