Terremoto


Vorbemerkung der Redaktion

Deine Wohnung ist Deine Zuflucht. Aber wenn plötzlich eine Riesenfaust das Haus schüttelt und sich in den Mauern Spalten bilden? Wenn alles auf die Straße flieht, weil die eigenen vier Wände zur Todesfalle werden und es Sicherheit nur noch im Freien gibt? Wenn die Alten desorientiert über die Straßen irren, weil der Dom im Zentrum nur noch ein Trümmerhaufen ist, das Rathaus und die Bäckerei eingestürzt und die Bars geschlossen sind? Dann ist Terremoto. Zur Zeit in der norditalienischen Po-Ebene, in der Emilia-Romagna Nach einem ersten schweren Beben am 20. Mai, bei dem es 7 Tote gab und dem eine Serie von Nachbeben folgte, gab es am 29. Mai das zweite, diesmal mit fast 20 Toten. Rechnet man alle mit, die sich nicht mehr in ihre Wohnungen wagen und in Zelten oder PKWs übernachten, gibt es (inzwischen) 200 000 Obdachlose.

Es folgen Auszüge aus einem Bericht von Federico Varese, den er wenige Tage nach dem 20. Mai über die Rückkehr in seine betroffene Heimatstadt Ferrara („La Stampa“, 25. 5.) schrieb. Varese, ein bekannter Mafia-Experte, hat einen Lehrstuhl für Kriminologie in Oxford.
 
Zu Beginn seines Berichts beklagt er, wie schnell die italienische Öffentlichkeit nach dem ersten Beben zur Tagesordnung überging. „Ein gewaltiger Schaden für das kulturelle Erbe, das lokale Wirtschaftsleben liegt am Boden, Tausende wurden evakuiert, es wird Jahrzehnte dauern, bis die Schäden bewältigt sind. Es geht nicht nur um die Zahl der Toten …“
 


„Auf dem Kirchplatz Santa Maria in Vado, wenige Schritte von meiner Haustür entfernt, liegt eine 7 Meter hohes Standbild der Madonna, welche die in die Kirche gehenden Kinder anschaute, zerschmettert auf dem Boden. Polizisten errichten Absperrungen und bedecken die Trümmerstücke mit einem Tuch. Nur der Kopf ist noch heil: Mit den Händen hebt ihn der Pfarrer hoch und stellt ihn auf einen Tisch im Hof des Kreuzgangs. Jetzt schauen sich Engel und Menschen direkt und stumm in die Augen.
 
Eine Stadt im Schock. Niemand erwartete ein Beben dieser Stärke. Am ersten Abend gehe ich mit einigen „evakuierten“ Freunden in eine noch intakte Wohnung. Einer kann die Tränen nicht unterdrücken, als er sich an den Moment erinnert, in dem ihn mitten in der Nacht der Lärm des Erdbebens weckte und er sich im Pyjama in einer Bar wiederfand…
 
Die medial erzeugte Empathie hat Grenzen. Als wir in Sant’ Agostino (einem Ort bei Ferrara, A. d. R.) vor dem zerstörten Rathaus stehen, spüren wir einen neuen Erdstoß. Durch einen riesigen Spalt in der Mauer erkennen wir zwei elegante gläserne Kronleuchter, die im Saal des Gemeinderats immer noch von der Decke hängen… Auf der anderen Seite des Platzes zeigt die Uhr des Glockenturms 4 Uhr 4 (den Moment des Erdbebens vom 9. Mai, A. d. R.). Der Student Riccardo sagt: „Die Erde schien aufzukochen. Ich habe nie gewusst, dass Erdbeben einen solchen Lärm erzeugen, ich kann schon seit zwei Nächten nicht mehr schlafen.“ Er wohnt 200 Meter von der Keramikfabrik von Sant’ Agostino entfernt, wo in der Nachtschicht zwei Arbeiter starben. Für den, der hier lebt, ist das Erdbeben noch nicht zu Ende … Wenige Kilometer hinter Sant’Agostino halten wir vor einer Dorfkirche. Hier kletterten die Feuerwehrleute in das zerstörte Kirchen-Innere und retteten ein Bild von Guercino. Die Gläubigen, die unbeweglich vor den Trümmern stehen, scheinen Totenwache zu halten…
 
Als wir über das Land bei Ferrara fahren, sehen wir die allgemeine Zerstörung: beschädigte Hütten und Bauernhäuser, tote Tiere. Die Präsidentin der Provinz Ferrara, Marcella Zappaterra, sagt am gleichen Abend, die Regierung müsse sofort den geschlossenen Stabilitätspakt außer Kraft setzen. und den betroffenen Gemeinden erlauben, mit dem noch in den Kassen vorhandenen Geld dem Notstand zu begegnen. Sie sei bereit, einseitig gegen den Pakt zu verstoßen. Der Bürgermeister von Cento und der stellvertretende Bürgermeister von Ferrara nicken. Ein Treffen mit Monti endete enttäuschend…
 
In Cento ist die Hauptstraße für den Verkehr gesperrt, die Schornsteine stürzen ein, aber eine Bar ist geöffnet. Die 17-jährige Anna sagt: „Mehr als das Erdbeben beeindruckte mich die Reaktion meiner Mutter“. Vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben erleben die Jugendlichen ihre Eltern verängstigt, schutzlos, verstört. Eine andere: „Ich hörte meinen Vater beten, dass das Haus hält“… Eine dritte: „Es gibt ein gutes solidarisches Klima“. Die Jugendlichen entdecken die Unerschöpflichkeit ihrer Ressourcen, mehr als ihre Eltern.“
 


Nachbemerkung der Redaktion

Am Ende eines Artikels von Martino Gozzi (in der „Süddeutschen“ vom 25. Mai) schreibt der Autor über das Erdbeben in Ferrara: „Vielleicht gelingt es ja auch jetzt, nach dem großen Beben und der Beseitigung akuter Schäden, die kulturelle Identität Ferraras und seines vom Erdbeben besonders getroffenen Umlandes zu erneuern. Ob diese „Wiederauferstehung“ aber angesichts der großen finanziellen Krise Italiens, die auch die Regionen und. Kommunen trifft, so einfach gelingt, ist fraglich. Die Menschen sind nach dem Beben vom 20. Mai und ihrer ersten Fassungslosigkeit wieder in ihre Häuser zurückgekehrt. Man sollte den lebensbejahenden Stoizismus der Menschen in der Po-Ebene nicht unterschätzen“. Das zweite Beben vom 29. Mai hat die Aufgabe noch größer gemacht. Und es ist immer noch nicht zu Ende. 


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