Geben Sie sich einen Ruck, Frau Bundeskanzlerin!
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
Europa durchlebt dramatische Wochen, aber während in fast allen Ländern die Sorge um die sich immer mehr verschlechternde ökonomische und soziale Lage steigt, ist es die EM, die die Aufmerksamkeit der meisten Deutschen auf sich zieht. In Deutschland ist die Krise eine Nachricht unter anderen, die oft unter der Rubrik Außenpolitik oder auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen erscheint. Die Sprache der Krise ist griechisch, spanisch oder italienisch, aber sie ist nicht deutsch.
Sie selbst, Frau Bundeskanzlerin, haben dafür den Grund benannt: Der gegenwärtige wirtschaftliche Erfolg Deutschlands liege daran, dass es seine „Hausaufgaben“ bereits vor Jahren erledigte, indem es Strukturreformen vornahm, welche andere weniger tüchtige Länder bisher nicht zustande brachten. Also sei es jetzt bei ihnen, nachzuziehen, und hierzu könne Deutschland höchstens ein paar gute Wünsche und Ratschläge beisteuern.
Wir haben keinen Zweifel, dass in Europa Deutschland zumindest auf ökonomischem Gebiet Klassenbester ist. Wir, die wir in Deutschland leben, wissen gut, dass diese Überlegenheit in Jahrzehnten harter Arbeit geschaffen wurde – zu der übrigens auch viele Einwanderer aus dem Süden Europas beitrugen. Den Stolz auf den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands wissen wir nicht nur zu schätzen, sondern wir teilen ihn.
Und doch verspüren wir starkes Unbehagen, wenn wir in Ihren Worten auch den Beiklang verspüren, der manchem „Klassenbesten“ eigen ist. Er wird wegen seiner Leistung bewundert, aber erregt selten Sympathie, da er sich oft durch sein Verhalten vom Rest der Gemeinschaft abgrenzt. Was eigentlich schade ist, denn wenn er sich weiterhin als Teil dieser Gemeinschaft verstehen und Arroganz und Besserwisserei vermeiden würde, wenn er die Ärmel hochkrempeln und der gemeinsamen Sache gut dienen würde, dann könnte er zum positiven Beispiel für alle werden, dem nachzueifern wäre.
Alle Beobachter stimmen darin überein, dass das heutige Deutschland das einzige Land ist, das über die wirtschaftliche Kraft verfügt, um Europa aus der Krise herauszuführen. Aber wirtschaftliche Kraft allein genügt nicht. Es bedarf auch des dazu nötigen politischen Willens, das heißt einer Entschlossenheit, welche die von Ihnen geführte Regierung bisher nicht aufgebracht hat. Vielleicht in der illusorischen Hoffnung, dass die Krise vor den Grenzen Deutschlands Halt macht. Oder – schlimmer noch – mit dem Kalkül, dass die Krise der europäischen Partner Deutschland ja auch Vorteile bringt.
In den vergangenen Monaten gab es viele ernst zu nehmende Stimmen, die Sie dazu aufforderten, die konkrete Idee eines vereinten und demokratischen, sozialen und solidarischen Europas wieder ins Zentrum deutscher Politik zu rücken. Es müsste Ihnen zu denken geben, dass Sie diese Botschaften von Personen ganz unterschiedlicher politischer Überzeugung und Herkunft erreichten, wie Helmut Kohl, Helmut Schmidt oder Joschka Fischer. Sie haben Sie aufgefordert, der Krise weniger buchhalterisch und mit einer politischeren Perspektive zu begegnen. Und letztlich nicht nur an den ökonomischen Wert des europäischen Zusammenschlusses zu glauben. Denn es geht nicht nur um die Banken, die soviel Verantwortung für das Entstehen dieser Krise tragen. Und auch nicht „nur“ um die Familieneinkommen und um die Zukunft der jungen Generationen in einem halben Kontinent. Sondern dabei stehen auch die grundlegenden Werte der europäischen Idee und – ohne übertreiben zu wollen – der Demokratie selbst auf dem Spiel. Plötzlich steht in Frage, was unsere Generation lange Zeit für einen zwar langwierigen und mühsamen, aber letztlich doch unaufhaltsamen Prozess hielt, nämlich die europäische Einigung. Heute wissen wir, dass die Gespenster der Vergangenheit, die im Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden, sehr schnell zurückkehren könnten. Der Erfolg, den jetzt offen nazistische Parteien in Griechenland haben, beweist es. Es verbreitet sich wieder ein Egoismus, den wir schon für überwunden hielten, oder ein noch schlimmerer Hass gegen Regierungen anderer Länder. Die Krise ruft in den Wählerschaften Unruhe, Rückzugstendenzen oder anmaßende Proteste hervor, während stabile Regierungen nötig wären, die auf den sozialen Zusammenhalt achten und von breiten Mehrheiten getragen werden. Wenn die traditionellen Parteien nicht die richtigen Antworten finden, füllen sprücheklopfende Marktschreier die Plätze.
Daher wünschen wir uns, dass Politiker wie Sie, die noch über Mittel zum Eingreifen verfügen, diese sofort und mit Überzeugung einsetzen, bevor es zu spät ist. Also zögern Sie nicht länger, verzichten Sie auf alle Taktiererei und auf kurzfristige Vorteile. Geben Sie sich einen Ruck, Frau Bundeskanzlerin!
Dass es bei den politischen Systemen der südeuropäischen Länder viel Reformbedarf gibt, ebenso wie bei ihren Sozial- und Rechtsordnungen, steht außer Zweifel. Als kritische Beobachter der italienischen Wirklichkeit wiesen auch wir während und nach der Ära Berlusconi immer wieder darauf hin. Berlusconi war es, der sich in den vielen Jahren, in denen er sich auf eine breite parlamentarische Mehrheit stützen konnte, vor allem damit beschäftigte, Gesetze zu seinem persönlichen Nutzen durchzubringen. Während es Ihre Partei war, Frau Bundeskanzlerin, die ihn mit offenen Armen in die EVP aufnahm.
Italien braucht Europa, um sich von den Hemmnissen zu befreien, die es in seiner Entwicklung zur vollgültigen Demokratie behindern. Diese Hindernisse heißen Korruption, Lähmung des politischen Systems, organisiertes Verbrechen. Strukturreformen vor allem auf dem Gebiet der (Aus-)Bildung und des Rechts haben absoluten Vorrang. Was nicht heißen soll, dass Europa die Reformen machen soll, die Italien nicht zustande bringt – wir glauben im Gegenteil, dass ein neu gewähltes italienisches Parlament die Kraft aufbringen muss, um auf vielen Gebieten entscheidende Veränderungen herbeizuführen. Aber dem Europaparlament müssen mehr Kompetenzen übertragen werden, um einer politischen Lenkung Europas eine demokratische Basis zu geben. Sicherlich können nicht von heute auf morgen epochale Reformen durchgeführt werden, aber sie müssen zumindest in die Wege geleitet werden. Und gleichzeitig müssen auf wirtschaftlichem Gebiet dringende konkrete Maßnahmen ergriffen werden, um den Ökonomien der Krisenländer ein Wachstum zu ermöglichen, das Arbeitsplätze schafft und den neuen Generationen wieder Hoffnung gibt.