Amartya Sen: Sparen allein ist ein Irrweg
Vorbemerkung der Redaktion
Während in Südeuropa der Zorn auf die gegenwärtige Krisenpolitik der EU und Deutschlands wächst, gibt es auch bei uns viel Unsicherheit, wie der Krise zu begegnen ist. Wir veröffentlichen dazu Auszüge aus einem Artikel des Nobelpreisträgers für Ökonomie, Amartya Sen (ursprünglich in der New York Times, in italienischer Übersetzung in der „Repubblica“ vom 15. Juni 2012).
Das Urteil, mit dem Sen seinen Artikel einleitet:
„Die sicherlich gut gemeinten, aber kurzsichtigen Absichten der EU-Politiker … sind nicht geeignet, um Europa wirtschaftlich zu sanieren, sondern führen vielmehr zu Armut, Konfusion und Chaos“. Und zwar schon deshalb, weil die gegenwärtige Politik der Austerity in sich „inkohärent und defizitär“ sei. Und weil sie außerdem mit einem noch wichtigeren Ziel kollidiere, nämlich „dem Erhalt eines demokratischen Europas, welches sich für das soziale Wohlergehen einsetzt. Also mit Werten, für die sich Europa seit vielen Jahrzehnten einsetzt“.
Dann führt Sen – am Beispiel Griechenlands – aus, dass man dem Sanierungsziel nicht dient, wenn man
„einseitig plötzliche und brutale Einschnitte in die öffentlichen Dienstleistungen vornimmt. Solche undifferenzierten Eingriffe senken nur die Nachfrage und stellen daher eine kontraproduktive Strategie dar“.
Und fährt fort:
„Viele Beispiele zeigen, dass es dann zu einer erfolgreichen Sanierung kommt, wenn Maßnahmen zur Reduktion des Defizits von Anreizen für ein schnelles ökonomisches Wachstum flankiert werden, um Einkommenssteigerungen zu ermöglichen. Nach dem zweiten Weltkrieg war es durch wirtschaftliches Wachstum möglich, gigantische Defizite abzuschmelzen. Etwas Ähnliches geschah während der Präsidentschaft von Bill Clinton. Auch der Abbau des schwedischen Haushaltsdefizits in den Jahren 1994 bis 98 wurde parallel zu schnellem Wachstum erreicht. Heute geschieht das Gegenteil: Von den europäischen Ländern verlangt man, ihre Defizite in einer Phase wirtschaftlicher Stagnation, wenn nicht gar Rezession abzubauen.“
Nach Verweisen auf John Maynard Keynes und Adam Smith:
„Der vielleicht beunruhigendste Aspekt der gegenwärtigen europäischen Krise ist die Tatsache, dass demokratisches Engagement durch ein Finanzdiktat ersetzt wird, welches nicht nur von den Führern der EU und von der Europäischen Zentralbank kommt, sondern indirekt auch von Rating-Agenturen, deren Urteile notorisch unzuverlässig sind.
Eine öffentliche Debatte mit Bürgerbeteiligung – eine ‚Regierung der Diskussion’ – hätte angemessene Reformen erarbeiten können, die in einem vernünftigen Zeitrahmen umsetzbar sind, ohne die Grundlagen des europäischen Systems sozialer Gerechtigkeit aufs Spiel zu setzen. Stattdessen haben plötzliche drastische Einschnitte bei den öffentlichen Dienstleistungen, die ohne jede Erörterung ihrer Notwendigkeit, Ausgewogenheit und Wirksamkeit vorgenommen wurden, in breiten Teilen der europäischen Bevölkerung eine Stimmung der Revolte hervorgerufen, die den politischen Extremismen Vorschub leistet.
Der europäische Wiederaufschwung wird nur gelingen, wenn zwei Fragen der politischen Legitimität gelöst werden. Erstens kann Europa nicht einseitigen Thesen – oder guten Absichten – von Experten überlassen werden, ohne ihre Abwägung in öffentlicher Debatte und einen informierten Konsens der Bürger. Angesichts der offensichtlichen öffentlichen Unzufriedenheit ist es kein Wunder, dass sich bei Wahlen eine Unzufriedenheit der Bürger zeigt, die den jeweils Regierenden immer wieder ihr Vertrauen entziehen.
Zweitens werden auch die Demokratie und die Möglichkeit guter Politik aufs Spiel gesetzt, wenn die politischen Führer Entscheidungen durchsetzen, die sowohl unwirksam als auch erkennbar ungerecht sind. Die offensichtliche Erfolglosigkeit des bisher auferlegten Sparregimes wirkt sich nicht nur negativ auf die Bürgerbeteiligung aus – die bereits ein Wert an sich ist – , sondern auch auf die Chance, in einem vernünftigen Zeithorizont zu einer sinnvollen Lösung zu kommen.
Von der Idee eines ‚demokratischen und vereinten Europas’, welche die Pioniere der europäischen Union im Herzen trugen, sind wir wahrhaftig weit entfernt.“