Bundesverfassungsgericht lässt sich Zeit

Wir haben Freunde, die sind jetzt richtig stolz auf das Bundesverfassungsgericht. Es soll sich bekanntlich zu der Frage äußern, ob der vom Europäischen Rat beschlossene Fiskalpakt und die Installation eines Stabilitätsmechanismus (ESM) mit der deutschen Verfassung vereinbar sind – wobei es zunächst um den Eilantrag geht, die Unterzeichnung beider Abkommen durch den Bundespräsidenten bis zur endgültigen Entscheidung zurückzustellen. Allein für diese Entscheidung will sich das Gericht – bei Eilanträgen unüblich – fast zwei Monate Zeit nehmen, und zwar bis zum 12. September. Das sei „genau richtig“, frohlocken die Freunde, denn endlich wage mal wieder jemand, sich von den Finanzmärkten nicht unter (Zeit-)Druck setzen zu lassen.
 
Man mag das für Charakterstärke halten. Mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass sie zu Lasten Dritter geht. Während das BVG dem Grundsatz huldigt, „in der Ruhe liegt die Kraft“, nutzen die Finanzmärkte die allgemeine Unsicherheit (zu der auch die Karlsruher Hängepartie gehört) zu immer heftigeren spekulativen Angriffen auf den Euro im Allgemeinen und auf die die spanischen und italienischen Staatsanleihen im Besonderen, bei denen einem jedes Frohlocken im Halse stecken bleibt. Denn zumindest diesen beiden Ländern bringen sie zusätzliche Verluste in Millionenhöhe. Als ob ein Chirurg seine Stärke dadurch zeigt, dass er einem Patienten mit akuter Blinddarmentzündung eröffnet: Kommen Sie in zwei Monaten wieder, ich muss mich erst einmal gründlich vorbereiten – und wir wollen uns doch nicht von einem Blinddarm abhängig machen, oder?  
 
Nun gibt es gute Gründe dafür, dass das Bundesverfassungsgericht keinen Schnellschuss produziert, sondern sich sein Urteil gut überlegt. Es geht darum, ob die Devise „mehr Europa“ überhaupt mit dem deutschen Grundgesetz vereinbar ist. Bei der Antwort könnte dem Gericht einiges an Kreativität abverlangt werden. Immerhin sollen wichtige Hoheitsrechte (z. B. über das Budget), die bisher beim deutschen Gesetzgeber lagen, auf die höhere europäische Ebene verlagert werden. Nicht jede derartige Verlagerung ist demokratisch ein Gewinn, denn in Merkels bisherigem Europa besteht die „europäische Ebene“ vor allem aus der Kommission und den Regierungschefs (Europäischer Rat) – mit einem beigeordneten Parlament, dessen Kompetenzen nicht ausreichen. Demokratische Kontrollen gibt es hier nur sehr vermittelt. Es ist richtig, wenn das Bundesverfassungsgericht darin ein Problem sieht. Nun hängt alles davon ab, welchen Lösungsweg es vorzeichnet. Die progressive Lösung wäre der Versuch, die Verlagerung an Bedingungen zu verknüpfen, welche demokratische Kontrolle auch auf der europäischen Ebene sichert. Die regressive Lösung wäre die Blockade. Man kann hoffen, dass sich das Gericht zu einer progressiven Lösung durchringt.
 
Insofern könnte die Entscheidung des Gerichts, sich bis zum 12. September Zeit zu lassen, auch ein gutes Omen sein. Was mich jedoch verunsichert, ist die mitgelieferte Erklärung, man werde „sogar“ im August ein paar interne Beratungstermine einplanen. Als ob dies einen ganz besonderen Heroismus beweist – im August, wo man doch normalerweise in den Urlaub entschwindet! Angesichts der Krise, die gerade jetzt nicht nur Spanien und Italien, sondern ganz Europa heimsucht, möchte man sich die Augen reiben. Auch ein Verfassungsgericht arbeitet in keinem Paradies, in dem sich die Uhren nach Bedarf anhalten lasen. Wenn die Operateure gnädigerweise so weit sind, könnte der Patient schon tot sein.

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