Die tragische Lehre aus Taranto
Der Stahlkonzern Ilva ist der größte Europas. Im Hauptwerk Taranto gibt es ca. 11.600 fest Beschäftigte, dazu kommen ca. 4.000 Leiharbeiter und Tausende, die in Betrieben arbeiten, die von Ilva abhängen. Am Werk in Taranto hängt die Existenz nicht nur der Stadt, sondern der ganzen wirtschaftsschwachen Region. Doch Ilva bringt außer Arbeit auch Krankheit und Tod. Die Anzahl der Tumore und Herz- und Atemwegserkrankungen ist überdurchschnittlich hoch, insbesondere bei Kindern. Das Wasser im einst von Dichtern besungenen Golf von Taranto ist eine dunkle, ölige Brühe. In den werksnahen Stadtteilen Borgo und Tamburi werden 130 % mehr Krankheitsfälle als im übrigen Stadtgebiet registriert. Täglich kehren die Bewohner das giftige Pulver von ihren Balkons und Türeingängen. Dioxin und Benzopyren sind die Hauptkiller. Seit Jahrzehnten.
Jetzt hat die örtliche Staatsanwaltschaft durchgegriffen. Ilva-Chef Riva, sein Sohn und sechs Führungskräfte wurden wegen Verursachung einer Umweltkatastrophe und mehrfachen Totschlags in Hausarrest genommen, sechs besonders umwelt- und gesundheitsschädliche Abteilungen vorläufig unter Zwangsverwaltung gestellt. Inzwischen hat das zuständige Überprüfungsgericht die Zwangsverwaltung bestätigt, allerdings mit dem Ziel „Sanierung, nicht Werkschließung“. Auch den Hausarrest für Riva, seinen Sohn und einen Manager bestätigte das Gericht, für fünf weitere wurde er aufgehoben.
Die Anklageschrift spricht Klartext: „Eine Unternehmenspolitik ist nicht mehr hinnehmbar, die ihre Ersparnisse auf Kosten der Umwelt erzielt, mit offensichtlich desaströsen Folgen für Umwelt, Arbeitnehmer und Stadtbevölkerung … Die Führung von Ilva setzte ihre umweltschädliche Tätigkeit fort, vom Willen zur Profitmaximierung geleitet und die elementarsten Sicherheitsregeln missachtend“. Die Staatsanwälte stützen sich auf mehrere erschreckend deutliche Gutachten. „Wir mussten handeln“ erklärte Oberstaatsanwalt Sebastio, „denn die mörderischen Emissionen verursachen nach übereinstimmenden Ergebnissen der Experten Krankheit und Tod“.
Doch dies gefährdet auch viele Arbeitsplätze. Zuallererst die der 5.000 Arbeiter in den gesperrten Abteilungen. Aber auch für weitere Zehntausende in den Ilva-Werken und in Zuliefererbetrieben. Der Vorsitzende der Ilva AG, Ferrante, mahnt, eine Schließung in Taranto würde das Aus auch für die Werke in Genua und Novi Ligure bedeuten. Verzweifelte Arbeiter schreien bei ihren Protestdemonstrationen„Was sollen dann unsere Kinder essen, frische Luft vielleicht?“ und „Wenn sie mich rausschmeißen, gehe ich stehlen, was bleibt mir sonst übrig?“. Doch es gibt auch diejenigen, die fragen: „Was nützt mir der Arbeitsplatz, wenn meine Kinder sterben?“.
Es ist ein tragisches Dilemma zwischen der Sorge um die eigene und familiäre Gesundheit und um den Arbeitsplatzverlust in der allgemeinen Rezession. In der Provinz Taranto beträgt die Arbeitslosenquote schon heute über 11 %, bei den 15- bis 24-Jährigen gar über 33 %. Wenn Ilva schließt, stirbt die Region. Aber wenn Ilva sie weiter vergiftet, ebenfalls.
Aus diesem Dilemma führt nur der Weg, den die Regierung, der Präsident der Region Apulien (Vendola) und die Gewerkschaften einschlagen wollen: massive Sanierungsmaßnahmen im Werk und in seinem Umfeld, damit Ilva für Umwelt und Menschen keine tödliche Gefahr mehr darstellt. Eine Herkulesaufgabe, die viel Zeit und Geld kostet. Zwar verweist Vendola darauf, dass die Region schon vor Jahren die rechtlichen Vorgaben, u. a. für die zulässigen Emissionswerte, drastisch verschärfte. Das reicht jedoch in keiner Weise aus, um die Schäden von 50 Jahren Giftproduktion aufzufangen. Zumal das Unternehmen Wege fand, die Vorgaben zu umgehen. Berichte und Gutachten wurden gefälscht. In einem von einem Arbeiter heimlich gedrehten Video sieht man, wie giftige Abwässer nachts direkt in die Kanalisation abgelassen werden.
Als Sofortmaßnahme stellte die Regierung im Eilverfahren 336 Millionen für die Sanierung bereit. Das ist in Krisenzeiten viel Geld, und dennoch zu wenig, um die notwendige Umstrukturierung zu finanzieren. Vor allem müssen nicht allein der Staat, sondern die Verursacher des Desasters zur Kasse gebeten oder vielmehr gedrängt werden. Die nämlich halten es nicht einmal für nötig, auf die Fragen der Ermittlungsbehörden zu antworten. Journalisten, die nach der Kooperation der Angeklagten fragten, antwortete der Oberstaatsanwalt lapidar: „Sagen wir es so: Sie machen von ihrem Recht zu schweigen Gebrauch“. Gesprächiger waren die Ilva-Führungsleute in abgehörten Telefongesprächen, in denen sie z. B. meinten, man müsse die Presse bestechen und die Umweltinspektoren der Region Apulien „mit dem Arsch auf ihrem Stuhl festbinden“.
Indessen steigen Angst und Wut in Taranto: bei den Ilva-Arbeitern, aber auch in der restlichen Bevölkerung. Die Protestbewegung ist zunehmend gespalten zwischen denen, die – egal wie – ihren Arbeitsplatz sichern wollen, und denen, die Gesundheits- und Umweltschutz für wichtiger halten.
Die Tragödie von Taranto hat exemplarische Bedeutung über die Region und über Italien hinaus. Um es mit den Worten des Regionspräsidenten zu sagen: „Eine Epoche geht endgültig zu Ende: die, in der der Schutz von Gesundheit und Umwelt sich dem Gott des Profits zu unterwerfen hatte. Das ist vorbei. Es muss eine neue Balance hergestellt werden … Denn beim Krieg zwischen Umwelt und Arbeit verlieren alle“.