Non sono la Merkel

In Italien wird es für Deutsche langsam ungemütlich. Sogar die Hunde sind schon hinter einem her. Vor ein paar Monaten wollte ich einen friedlichen Spaziergang um einen Alpensee machen, aber selbst da, in 2000 Meter Höhe, kam ein kleiner italienischer Idefix angeschossen, kaum dass er mich erblickt hatte. Meine Frau ignorierend (sie hat die doppelte Staatsbürgerschaft) baute er sich vor mir auf, rammte die Beinchen in den Boden und begann anhaltend zu kläffen, ganz eindeutig in meine Richtung. Mir war sofort klar, worum es ging – er witterte in mir den Deutschen. Da ich ihn mir ohne lange Diskussion vom Halse schaffen wollte, schrie ich zurück: „Lass mich in Ruhe! Ich bin nicht die Merkel!“ Genauer gesagt: Ich schrie es auf Italienisch, da ich Grund zu der Annahme hatte, dass der Hund nur dieser Sprache mächtig war. Daraufhin unterbrach er sein Gekläff, machte zwei Tanzschritte wie ein Dressurpferd en miniature, wedelte kurz mit dem Schwanz und verschwand.

Erfolgreich, aber feige

Meine in der Not improvisierte Botschaft war angekommen. Aber nach der ersten Erleichterung regte sich mein (protestantisches) Gewissen: Ich bin nicht die Merkel, zweifellos, aber war es richtig, mich an diesem Alpensee einfach von ihr loszusagen und mit Idefix zu verbrüdern? Hätte ich ihm nicht sagen müssen, dass ich zwar ebenfalls die Arroganz verabscheue, mit der deutsche Besserwisser und selbsternannte Hüter des europäischen Geistes den Italienern einen Sparkurs aufzwingen, welcher die Wirtschaft immer tiefer in die Rezession treibt, also in diesem Punkt auf seiner Seite bin – aber trotzdem meine, dass die bisherige staatliche Schuldenmacherei Italiens enden, Steuerhinterziehung bestraft und Steuerflüchtlinge endlich geschnappt werden müssen? War es nicht auch Feigheit, dies alles gegenüber Idefix unter den Tisch fallen zu lassen, nur weil er so wütend kläffte?

Wer sich gegenwärtig als Deutscher in Italien aufhält und noch über einen Rest sozialer Sensibilität verfügt, bewegt sich in einem Raum der Zweideutigkeit. Einerseits verspürt er den langsam wachsenden Zorn der Menschen gegen die (italienische) Regierung, die Administration in Brüssel, „die Merkel“ und die so tugendhaften Deutschen insgesamt. Andererseits bieten ihm die feinfühligeren Italiener, mit denen er in Kontakt kommt, den Notausgang an, eben persönlich „anders“ als die deutsche Politik zu sein. Es ist verführerisch, in solche Watte gepackt zu werden, denn es bewahrt vor schmerzhaften persönlichen Konflikten. Aber es unterstellt eine Distanz zur deutschen Politik, die genauso undifferenziert ist wie der Zorn, den diese Politik hervorruft. Wie es übrigens auch die Blindheit der deutschen Politik gegenüber dem Zerstörungspotenzial ist, der in diesem Zorn steckt.

Deutsche Rollenspiele

Als ich 1968 zum ersten Mal nach Italien kam, hatte ich noch andere Probleme. Ehemalige Duce-Anhänger führten mir stolz und erwartungsfroh den Stahlhelm vor, den sie zweieinhalb Jahrzehnte im Keller gebunkert hatten, linke Anhänger der Resistenza wollten mich in SS-Uniformen zwängen, weil es für sie „eccitante“ war. Es fiel mir nicht immer leicht, mich dagegen zu wehren. Klischees sind verführerisch, weil sie es nahe legen, Erwartungen zu erfüllen und dafür auch noch Beifall zu bekommen. So gruselig sie auch sein mögen.

Die Themen und Klischees haben sich verändert, die Verführung ist geblieben. Heute repräsentiert ein Deutscher in Italien nur noch selten diese Vergangenheit – es wird überlagert durch Neues: Als Deutscher bin ich ein Exemplar des Volkes, das in Europa die Hegemonie hat, und dazu soll ich mich verhalten. Auch in der Negation bediene ich das Klischee: Wenn ich gegenüber Idefix beteure, che „non sono la Merkel“, erliege ich der Verführung des Vereinfachens – als ob auch ich mich vor allem dadurch definiere, für oder gegen sie zu sein.

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