Verlorene Generation?

Vor einer guten Woche, am 15. November, gab es europaweite Demonstrationen gegen die Austerity-Politik, die Europa verordnete Sparsamkeit. Wobei allerdings das Wort „europaweit“ den feinen Riss verkleistert, der in dieser Frage den Kontinent durchzieht. Aufrufe zu Generalstreiks und Demonstrationen gab es vor allem in den südeuropäischen Ländern, in Spanien, Portugal und Italien (um von Griechenland zu schweigen, es befindet sich sowieso im Daueraufruhr). Und der Norden schaute zu – nicht nur, aber überwiegend.

Auch in Italien gab es einen Generalstreik, zu dem allein die CGIL aufrief, die Gewerkschaften sind gespalten. Aber die Jugend ging in Massen auf die Straße. Allein in Rom, wo es gleich vier Demonstrationen gab (darunter eine Studenten-, eine Schüler- und eine Lehrerdemonstration), sollen es 60 000 gewesen sein, in Mailand 40 000, in Florenz und Neapel jeweils 30 000, in Bologna, Genua, Bari und Pescara 10 000.

Gewaltexzesse auf beiden Seiten

Opfergeneration

Der Verlauf der Demonstrationen war trotz ihrer Größe der übliche: Obwohl sich die meisten Schüler, Studenten oder jungen Arbeitslosen auf Gewaltlosigkeit eingeschworen hatten, übernahmen in Rom, Turin und einigen anderen Städten irgendwann die unvermeidlichen „black blocks“ die Regie (in Rom sollen auch Mitglieder der faschistischen Jugend dabei gewesen sein) und gingen auf Konfrontation mit der Polizei. In Turin soll ein Polizist mit einem Baseball-Schläger schwer verletzt worden sein – bei diesen Demonstrationen fehlen Ordner, welche die „black blocks“ in die Isolation drängen können. Andererseits gibt es auch bei der Polizei Kräfte, welche die Konfrontation suchen. Es kam zu Szenen, in denen vermummte Polizisten mit ihren Stöcken auf am Boden liegende Demonstranten einschlugen, die längst keinen Widerstand mehr leisteten, aber von anderen Polizisten für diese Exekution festgehalten wurden. Als sich vor dem römischen Justizpalast Demonstranten blicken ließen, wurden sie auf dem Vorplatz nicht nur von der Polizei erwartet, sondern aus den oberen Stockwerken auch mit Tränengas beschossen. Was ein Nachspiel hatte, denn was haben Polizisten im Justizpalast zu suchen? Oder wer hat sonst geschossen? Die Innenministerin machte sich unglaubwürdig, als sie behauptete, die auf den Videos sichtbaren Geschossspuren, die von den offenen Fenstern im dritten oder vierten Stock des Justizgebäudes nach unten wiesen, könnten nur „Abpraller“ sein – der von der Polizei auf dem Vorplatz abgefeuerten Tränengasgranaten.

Monti solidarisierte sich mit den angegriffenen Polizisten und zeigt sich ansonsten ungerührt. Könnte es sein, dass ihm solche Schlachtszenen durchaus in den Kram passen, als Alibi gegenüber Brüssel, den Finanzmärkten und „la Merkel“: Seht her, den Menschen tut es weh, wir tun also etwas? Ich habe den Eindruck, dass man sich in unserer Öffentlichkeit daran gewöhnt, die Demonstrationen vor allem aus dieser Perspektive zu sehen.

Worum es eigentlich geht

Bei alledem bleibt das eigentliche Ziel der Demonstranten auf der Strecke: der öffentliche Protest dagegen, dass mit der gegenwärtigen Austeritätspolitik zu wenig Wachstumsimpulse verbunden sind. Denn dies bedeutet nicht nur, dass die Wirtschaft schrumpft, sondern auch in Bildung und Ausbildung immer weniger investiert wird, die Schulen und Universitäten verkommen. Unter den 15- bis 24-Jährigen überschreitet die Arbeitslosigkeit inzwischen die 35 %-Grenze (in Süditalien 50 %). Und „normale“ Arbeitsverhältnisse werden immer seltener. Es besteht die Gefahr, dass zur Konsolidierung der südeuropäischen Haushalte eine ganze Generation geopfert wird.

Unter diesen Umständen in den Protesten nur Exzesse der Gewalt oder Tätigkeitsnachweise für eine Regierung zu sehen, die „ihre Hausaufgaben macht“, beweist Blindheit. Und gibt denjenigen Auftrieb, die nur noch rauswollen aus Europa. Grillo schrieb einen offenen Brief an die Polizisten, in denen er sie auffordert, demnächst die Seiten zu wechseln. Es ist Effekthascherei, aber seine Anhängerschaft wächst.

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