Zwei ziemlich verschiedene Neujahrsreden
Zwischen Deutschland und Italien liegen die Alpen, aber zwischen den Reden, welche Angela Merkel, die deutsche Kanzlerin, und Giorgio Napolitano, der scheidende italienische Staatspräsident, am 31. Dezember an ihr jeweiliges Volk richteten, liegen Welten. Nicht wegen ihrer unterschiedlichen institutionellen Rolle – hier war es Merkel, die die „präsidiale“, dort Napolitano, der die „politische“ Rede hielt. Ich weiß, dass man Politiker in der Regel nicht nach Neujahrsreden beurteilt. Aber in diesem Fall lohnt sich der Vergleich. (Wer die Merkel-Rede im Wortlaut im Internet finden will: siehe z. B. www.Finanznachrichten.de).
Beispiel Soziale Lage
Für Angela Merkel erledigt sie sich damit, dass „wir in diesem (vergangenen) Jahr die niedrigste Arbeitslosigkeit und die höchste Beschäftigung seit der Wiedervereinigung hatten“. Dass es auch bei uns noch Millionen von Arbeitslosen gibt und sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter und weiter öffnet, dazu kein Wort. Das ist die Regierung, die aus dem offiziellen Armutsbericht, den sie selbst in Auftrag gab, alle „kritischen“ Stellen rausstrich. Es ist die Ansprache an eine Mittelschicht, die eine gute Ausbildung bekommt oder Arbeit hat, und bestenfalls die „Sorge“, dass sich daran etwas ändern könnte. Eine Mittelschicht, der Merkel staatsmännisch mitteilt, dass im kommenden Jahr „das wirtschaftliche Umfeld nicht einfacher, sondern schwieriger wird“, freundlich eingepackt in die wolkige Direktive, dass wir „für unseren Wohlstand und unseren Zusammenhalt die richtige Balance (zwischen) Bereitschaft zur Leistung und sozialer Sicherheit für alle“ halten müssten. Und zusätzlich eingepackt in erbauliche Geschichten darüber, wie sich die Menschen unseres Landes gegenseitig helfen und die Forschung Arbeitsplätze schafft.Ganz anders Napolitano. Er hält dem Land einen Spiegel vor, in dem es nur wenig Erbauliches gibt. Seine Ansprechpartner sind die Millionen Familien, die durch sinkende Einkommen und zunehmende Ausgaben immer ärmer werden, die Kleinrentner, Arbeitslosen und Kurzarbeiter. Und vor allem die Jugendlichen ohne Perspektive. Also alle diejenigen, die in Italien immer tiefer in die Rezessionsfalle geraten. Er redet vom Unternehmenssterben, das ganze Regionen veröden lässt, und gesteht mit hartem Realismus zu: Ja, der Sparkurs sei notwendig, aber treibe das Land noch tiefer in die Rezession.. Deshalb müsse von nun an die „soziale Frage“ ins Zentrum des politischen Handelns rücken, müssen Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen sozial differenzierter vorgenommen werden, um – insbesondere im Süden! – die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen, Arbeitsplätze zu schaffen und soziale Unterschiede abzubauen. Mit dem Duktus eines Regierungsprogramms, das an Monti anknüpft, ihn aber auch hinter sich lässt.
Beispiel EuropaIn der Merkelschen Silvesterrede ist Europa eine blutleere Reminiszenz, vor der man seinen obligatorischen Bückling macht: der friedensstiftende Gründungakt von De Gaulle und Adenauer vor 50 Jahren. Woraus eine psychologische Allzweckwaffe abgeleitet wird: „Wer Mut zeigt, macht Mut“. Noch einmal erscheint das Wort Europa, aber nur im negativen Kontext der „europäischen Staatsschuldenkrise“, an der die zitierte „Balance“-Forderung aufgehängt wird. Ob und wofür wir Europa brauchen, ob es reformbedürftig ist, dazu kein Wort. Stattdessen die Beschwörung: „Die Verantwortungslosigkeit von damals darf sich nie wieder durchsetzen“ (wofür Merkel sorgt). Und schließlich die Apotheose „unserer Stärke, unseren Zusammenhalts, unserer Fähigkeit zu immer neuen Ideen, unserer wirtschaftlichen Kraft“. Hier spricht – „mit Gottes Segen“ –, das deutsche, nicht das europäische WIR.
Die Bedeutung, die Napolitano Europa zuweist, die Hoffnung, die er damit verbindet, ist so fundamental anders, dass es einem fast das Herz zerreißt. Durch weitere Integration müsse es in die Lage versetzt werden, den Kontinent aus der Rezession heraus- und wieder Entwicklung, Arbeit, soziale Gerechtigkeit voranzubringen. Die Erneuerung Italiens sei nur „gemeinsam mit Europa“ möglich, weshalb Italien bei der ebenso nötigen Reform Europas nicht in der Rolle des „passiven Exekutors“ verharren dürfe, sondern einer ihrer „glaubhaften“ Vorkämpfer werden müsse. Und schließlich noch dies: Im Namen der „Solidarität mit den Schwächsten“ und der eigenen „zivilen und kulturellen Werte“ solle Italien ein Land werden, das „durch Öffnung und Inklusion wächst“. Indem es nicht nur die 420.000 Emigrantenkinder einbürgert, die in Italien geboren wurden, sondern auch diejenigen aufnimmt, die „Asyl und Arbeit suchen“. Unerhörtes, über das Merkel kein Wort verliert.
Zwei Haltungen
Natürlich ist der Unterschied zwischen beiden Ansprachen auch mit der unterschiedlichen Situation beider Länder zu erklären: hier die wirtschaftliche Hegemonialmacht, der es relativ gut geht, dort das südeuropäische Land in der Rezession, das nur knapp einer schweren Finanzkrise entging und auf gemeinsames europäisches Handeln setzt. Beide Ansprachen verraten aber auch unterschiedliche – politische, psychische, moralische – Haltungen, die für die Zukunft Europas ihr jeweils eigenes Gewicht haben dürften. Und bei denen man sich fragen mag, welche den Kontinent eher voranbringt.
Das hervorstechende Merkmal der Merkelschen Neujahrsrede ist ihre selbstzufriedene Kantenlosigkeit. Auf sozialpolitischem Gebiet scheint es keine erwähnenswerten Probleme mehr zu geben. Politische Führung beschränkt sich auf Seelenmassage: Sie nimmt „Sorgen“ zur Kenntnis; bereitet auf „schwierigere“ Zeiten vor; spricht „Mut“ und „Zuversicht“ zu, mit der Forschung als Allheilmittel. Während Napolitanos Neujahrsrede die Probleme fast brutal benennt und auf Reformen drängt. Europa potenziert den Unterschied: Für Merkel führt es eine Schattenleben am Rande Deutschlands, für Napolitano ist es, als notwendiger Hebel zur Umgestaltung des eigenen Heimatlandes, selbst zentrales Objekt der Umgestaltung.
Als Bürger Europas höre ich die Rede Merkels mit Enttäuschung, die Rede des 87-jährigen Napolitano mit Hoffnung.