„Governabilità“ statt „Cambiamento“?

Die Lage klärt sich, aber das macht sie nicht besser. Bersanis Versuch, eine Reformkoalition zustande zu bringen, ist vorerst gescheitert, er fand keine Partner. Mit dem Block Berlusconi- Lega sind Reformen nicht möglich, und die 5-Sterne-Bewegung, mit der sie theoretisch möglich wären, verweigert sich. Da sich Bersani in den vergangenen Wochen vor allem auf die 5-Sterne-Bewegung konzentrierte, ist nunmehr geklärt: „Reinheit“ ist ihr wichtiger, Chaos wird billigend in Kauf genommen. Napolitano hat eine neue Konsultationsrunde eröffnet.

Bersani nach dem Treffen mit Napolitano

Bersani nach dem Treffen mit Napolitano

Was ist in dieser Situation zu tun? Berlusconi und Grillo wissen es – jeder auf seine Weise –genau. B. will um jeden Preis wieder ins Spiel kommen und bietet dafür sogar den Eintritt in eine Regierungskoalition unter PD-Führung, natürlich für ein paar „kleine“ Gegenleistungen. Grillo und sein Guru Casaleggio wissen es ebenfalls: Je tiefer der Karren der italienischen Politik in die Unregierbarkeit fährt, desto besser. Ihr messianisches Reich kommt hinterher. Sollen doch PD und PdL miteinander koalieren. Dann tun sie nur das, was Grillo schon immer behauptet hat (alles eine Soße) – und der Aufstieg der 5-Sterne-Bewegung kann weitergehen. Was in der Zwischenzeit mit Italien geschieht: egal. Grillo schaut dabei zu, ihm bleibt fürs Erste nur die Aufgabe, seinen Laden durch Ausschlussdrohungen zusammenzuhalten.

Berlusconis Sirenenklänge

Wie soll sich die PD, die aus der Wahl ja immer noch als relativ stärkste Kraft hervorging, verhalten? In der Abgeordnetenkammer bescherte ihr das Wahlgesetz sogar die absolute Mehrheit. Ihr Wahlversprechen war „Cambiamento“, Veränderung. Nun drängt sie fast alle Welt in die entgegengesetzte Richtung, in die Koalition mit B., um der „Governabilità“ (Regierungsfähigkeit) willen. Grillo schiebt, B. lockt und der Staatspräsident fordert es fast, im Namen der Verantwortung „fürs Ganze“. Und aus der Ferne schieben sogar Angela Merkel und die ganze EVP mit. Auch bei Teilen der PD wächst die Bereitschaft, dem nachzugeben. Renzi, der Bersani bei den vergangenen Vorwahlen unterlag, signalisierte bereits, dass er B.s Vorschläge für teilweise akzeptabel hält.

Um die Entscheidung zu verstehen, vor der nun die PD steht, muss man sich die „kleinen Gegenleistungen“ vor Augen führen, welche B. für einen Regierungseintritt verlangt. Scheinbar konziliant ließ er verlauten, dass unter Bersanis 8-Punkte-Programm (wir berichteten darüber) auch „Vernünftiges“ sei. Was umgekehrt heißt: Einiges hat natürlich auf der Strecke zu bleiben: schärfere Gesetze gegen Korruption, Bilanzfälschung, Geldwäsche, gegen den Interessenkonflikt usw. Also alles, was B. selbst betreffen würde. Und außerdem müsse bei der im Mai anstehenden Neuwahl des Staatspräsidenten ein von B. vorgeschlagener Kandidat gewählt werden – übrigens käme auch er selbst dafür in Frage (einen Staatspräsidenten kann man doch nicht ins Gefängnis stecken).

Es wäre das Ende jeder Reformpolitik in Italien – und jeder Hoffnung, sich vom Berlusconismus zu befreien. Stattdessen die Fortsetzung der bisherigen Fäulnis, mit einer PD, die öffentlich Harakiri übt, weil sie ihren Reformwillen auf dem Altar einer kurzfristigen „Governabilità“ opfert, unter Bruch aller Wahlversprechen.

Den Kurs auf „Cambiamento“ halten

Ein Grillo-Anhänger mag diese Aussicht toll finden. Wem wirklich ein „Cambiamento“ am Herzen liegt, kommt zu einer anderen Sicht:

  1. Die Tabuisierung von Neuwahlen muss fallen. Hielte die PD in der gegenwärtigen verfahrenen Situation an ihr fest, säße sie in der Falle. Auch ich glaubte zeitweise an dieses Tabu, es war ein Irrtum. Es bleibt nichts anderes übrig, als gerade jetzt auf die Lernfähigkeit aller Beteiligten zu setzen. Jeder Wahlkampf kann ein Neuanfang sein – für diejenigen, die sich zur Wahl stellen, und für die Wähler.
  2. Mittelinks muss die nächste Wahl zu einem Plebiszit über das „Cambiamento“ machen, und dafür endlich auch die Zivilgesellschaft mobilisieren: Sozialpolitik, Ökonomie, Justiz, Korruption. Und damit noch gezielter als bisher über den „Berlusconismus“. B. versucht jetzt auch die Straße gegen die Justiz zu mobilisieren. Aber immerhin stimmten – wenn man die Mehrheit der Grillo-Wähler mitrechnet – zwei Drittel der Italiener für das „Cambiamento“. Diese Bereitschaft kann schnell verspielt werden, aber sie darf es nicht. Die Verantwortung, sie in politisches Handeln umzusetzen, liegt nicht bei Grillo (er lehnt sie ab bzw. verschiebt sie auf den Sankt-Nimmerleins-Tag), sondern bei Mittelinks.
  3. Staatspräsident Napolitano darf laut Verfassung bis zum Ende seiner Amtszeit (im Mai) keine Neuwahlen ausschreiben. Er wird jetzt wohl versuchen, eine überparteiliche Führungsfigur für eine Notregierung zu finden, die dringliche Sofortmaßnahmen (Ökonomie, Wahlgesetz) in Angriff nimmt. Es wäre eine Alternative zum Chaos (der Spread steigt schon wieder). Dem sollte sich die PD nicht in den Weg stellen – auch wenn sie dabei nochmals in eine unfreiwillige Koalition mit der PdL gerät. Aber nur dann, wenn es eine klare inhaltliche und zeitliche Begrenzung des Auftrags gibt, nach dessen Erledigung der Weg für Neuwahlen frei wäre. Mit ihrer absoluten Mehrheit in der Abgeordnetenkammer hält sie dafür einen wichtigen Schlüssel in der Hand.

Unsicherheitsfaktor PD

Eine Unbekannte bleibt dabei die PD selbst. Sie müsste bei all dem bevorstehenden Hin und Her auf Kurs bleiben. Dabei gibt es auch bei ihr Kräfte, welche „Regierungsfähigkeit“ über „Veränderung“ stellen und dafür wohl auch bereit wären, sich Bersanis zu entledigen. Denn er war es, der in den vergangenen Monaten mit erstaunlichem Weitblick am Grundsatz „keine Regierbarkeit ohne Veränderung“ festhielt. Entzöge ihm die PD die Führung oder ginge ihm jetzt ein Teil der Abgeordneten von der Fahne, wäre die PD keine Reformkraft mehr.

PS:
Nach den letzten Meinungsumfragen würde vor allem die 5-Sterne-Bewegung Stimmen verlieren, wenn jetzt Neuwahlen stattfänden. Von den Grillo-Enttäuschten würde vor allem Berlusconi profitieren – seine PdL würde wieder zur stärksten Partei. Man sieht, mit welchem Feuer Grillo bei seiner Totalverweigerung spielt. Im Endeffekt wird er damit Italien wohl wieder an Berlusconi ausliefern.

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