Punktsieg für Mittelinks
Nach mehreren Anläufen wurden gestern die Präsidenten beider Kammern – Abgeordnetenhaus und Senat – gewählt. Mit überraschendem Ergebnis: im Abgeordnetenhaus wurde Laura Boldrini gewählt, ehemalige Sprecherin des UNHCR, die über die SEL-Liste ins Parlament kam. Im Senat gewann der ehemalige Anti-Mafia-Oberstaatsanwalt Pietro Grasso (PD) die Stichwahl gegen den scheidenden Senatspräsidenten Schifani, den PdL und Lega unterstützten.
Beide Mittelinks-Kandidaten wurden aufgestellt, nachdem klar war, dass die 5-Sterne-Bewegung (M5S) jegliche Verständigung auf einen gemeinsamen Kandidaten ablehnt. Sie stimmte in den ersten Wahlgängen für zwei eigene Vertreter, während sich die anderen Fraktionen enthielten, um Zeit für Verhandlungen zu gewinnen. Dann landete Bersani seinen Überraschungscoup: Statt altbekannte Vertreter „aus dem Apparat“ kandidieren zu lassen, schickte er zwei überparteilich anerkannte, charismatische „Neue“ aus der Zivilgesellschaft ins Rennen. Dies war ein starkes Signal der Veränderung. Mittelinks übernahm wieder die Initiative, insbesondere gegenüber M5S. Denn Laura Boldrini und Pietro Grasso als Vertreter einer „alten korrupten Politikerkaste“ zu beschimpfen, muss auch eingefleischten „Grillini“ schwer fallen. Doch wahr ist auch: Ohne die M5S im Parlament wäre es zu dieser „innovativen“ Entscheidung wohl kaum gekommen.Überraschungskandidaten setzen sich durch
Zunächst wurde Boldrini im Abgeordnetenhaus, wo die Linkskoalition dank Wahlgesetz über eine satte absolute 340 Stimmen-Mehrheit verfügt, mit 327 Stimmen gewählt. Die neue Präsidentin hielt eine kurze, aber denkwürdige und immer wieder von Applaus unterbrochene Antrittsrede. Anknüpfend an ihre Erfahrungen als UNHCR-Vertreterin erinnerte sie an die missachteten Rechte von Flüchtlingen, aber auch an Frauen, die männlicher Gewalt ausgesetzt sind, an perspektivlose Jugendliche, an Krisenopfer unter Arbeitern und Unternehmern. Eindringlich unterstrich sie die Notwendigkeit, die Zukunft Italiens in eine europäische und globale Perspektive zu stellen.
Schwieriger verlief die Wahl im Senat. Denn hier verfügt die Mittelinks-Koalition gegenüber der Rechten (PdL und Lega) nur über einen knappen Vorsprung, und dazwischen steht noch die große Gruppe von M5S und die kleine Gruppe um Monti. Bei Enthaltung der „Grillini“ hätten dem rechten Kandidaten Schifani (dem Kontakte zur Mafia nachgesagt werden) ein paar Stimmen aus der Monti-Fraktion für eine Mehrheit gereicht. Eine abwegige Möglichkeit? Leider nicht. Zwischen Montis „Scelta Civica“ und B.s PdL kam es vorher tatsächlich zu Verhandlungen: Monti soll die Stimmen seiner Fraktion der PdL unter der Bedingung angeboten haben, dass diese im Gegenzug ihn als Mitterechts-Kandidaten für die Nachfolge Napolitanos unterstützt. Das „Tauschgeschäft“ platzte, und das Zentrum blieb bei seiner Wahlenthaltung.Bei der Stichwahl, in der es nur noch um die Entscheidung zwischen Grasso und Schifani ging, entfielen auf Grasso 137 Stimmen, also 12 Stimmen mehr, als die Mittelinks-Koalition im Senat über Abgeordnete verfügt. (Auch Grasso hielt übrigens eine ausgezeichnete Rede, in der er insbesondere – wie könnte es anders sein – die Opfer und Kämpfer gegen die Mafia würdigte).
Grillos Einheitsfront wackelt
Alles spricht dafür, dass die „überzähligen“ Stimmen für Grasso aus der M5S kamen. Denn dort flogen vor der Stichwahl die Fetzen. Vor allem die sizilianischen Abgeordneten stellten sich quer:„Wenn wir dazu beitragen, dass Schifani statt Grasso gewinnt, können wir uns in Sizilien nicht mehr blicken lassen“. Ein M5S-Senator postete: „Wahlfreiheit, Freunde! Borsellino (Bruder des von der Mafia ermordeten Richters, AdR) fordert uns auf, Verantwortung zu zeigen, und wir sind nicht verantwortungslos“.
Die kluge Entscheidung zur Aufstellung zweier hervorragender „Außenseiter“ wie Boldrini und Grasso für das zweite und dritte Amt im Staat befreite Mittelinks aus der Lähmung. Statt wie das Kaninchen auf die Schlange in Gestalt der M5S zu starren, wagte es einen Schritt zur Erneuerung. Der in der Ablehnungsfront der M5S erste Risse entstehen ließ und bei Grillo Tobsuchtsanfälle hervorrief. Dieser droht jetzt, wer sich nicht an die verabredeten Abmachungen hielt, müsse die Konsequenz ziehen und zurücktreten. Doch die Basis ist gespalten, Grillos Blog wird von Tausenden von Kommentaren (pro und contra) überflutet. Einer lautete: „Die stimmten gegen die Mafia. Willst Du sie rausschmeißen?“.
Ungewisser Ausblick
Einiges ist also in Bewegung geraten. Man sollte sich aber davor hüten, daraus voreilige Prognosen abzuleiten. Voraussichtlich wird Napolitano Bersani einen Sondierungsauftrag zur Regierungsbildung erteilen, dessen Erfolgsaussichten jedoch gering sind. Denn für aufmüpfige Grillini ist es leichter, die Wahl eines PD-Senatspräsidenten zu wagen als ein Vertrauensvotum für eine von Bersani angeführte Regierung abzugeben. Scheitert Bersani, wird Napolitano wahrscheinlich versuchen, Monti als geschäftsführenden Regierungschef zu halten, bis der nächste Staatspräsident das Ruder übernimmt – und Napolitano, von seiner enormen Last befreit, endlich den wohlverdienten Ruhestand antreten kann. Für Italien bleiben die Aussichten trübe.
Was für ein polit-taktisches Meisterstück von Bersani!
In meinem Post vom 14.3. (zu Herrn Schlichts Artikel) habe ich schon gemeint, dass es schwer werden wird für Grillo, die Disziplin in seiner Gruppe aufrechtzuerhalten.
Was jetzt auf seinem Blog los ist, spricht Bände. Aufruhr und Zensur! („Sparite 10 pagine di commenti“, ‚Il Sole 24 Ore‘).
In der Politik gibt es eigentlich seit mindestens zweieinhalb Jahrtausenden (wie man aus den ersten politischen Schriften der Inder und Chinesen weiss) nichts Neues.
Es sind immer die gleichen Verhaltensmuster in verschiedener Form. Deshalb ist Politik für denjenigen, der sich intensiv mit ihr beschäftigt, auch so leicht vorauszusagen. Fast langweilig.
Wenn man eine Vorstellung bekommen will, was aus Grillos Bewegung werden wird, muss man sich die Geschichte revolutionärer Bewegungen anschauen. Alle haben ihre „Väter gefressen“. Nach den grossen Volks-Begeisterern kamen die moderaten, pragmatischeren Verwalter.
Robespierre trat mit dem Anspruch der absoluten Moralität an, und ein Telegramm von Lenin an einen Volkskommissar Anfang der 20iger Jahre zeigt schockierend offen, dass er der Überzeugung war, den Bolschewiki sei alles erlaubt, weil sie absolut moralisch seien.
Grillo erinnert mit seinem monomanischen Verhalten an manches aus den Anfangszeiten vorhergehender Revolutionen.
Was garnichts über die Funktionalität der Grillo-Bewegung für den notwendigen Wandel Italiens aussagt. Oder über die historischen Verdienste Grillos.
Aber ich glaube, er könnte möglicherweise schon Geschichte sein. Wenn seine Einstellung und sein Verhalten nicht rationaler werden.
Regel 113 des Statuts des Italienischen Senats (über die Prozeduren der Stimmabgabe) schreibt vor, dass in jedem Fall auf Antrag von 20 Senatoren geheim abgestimmt werden muss.
Das bedeutet, es ist unmöglich für Grillo, „seine“ Abgeordneten an der Kandare zu halten.
Ein Staatspräsident wird gewählt werden. Mit einer neuen Regierung ist das schon schwieriger.
Aber die italienische Verfassung hat da eine offene „Lücke“. Zwar muss sich eine neue Regierung innerhalb von 10 Tagen einer Vertrauensabstimmung stellen.
Aber nichts schreibt dem Staatspräsidenten vor, innerhalb welcher Zeit er eine neue Regierung vorschlagen muss.
Theoretisch könnte Monti ad infinitum weitermachen. So ist ja auch die Intervention Napolitanos zu verstehen, dass Monti weitermachen müsse, bis eine neue Regierung stehe.
Das Parlament ist arbeitsbereit.
Die Monti-Regierung ist da.
Italien hat keine politische Krise.