Ein Vergleich, der hinkt
Am Donnerstag um 10 Uhr vomittags beginnt die Wahl des neuen italienischen Staatspräsidenten, Da er für die nächsten 7 Jahre gewählt wird und von seiner Person viel abhängt – mehr als z. B. vom deutschen Bundespräsidenten -, geht es dabei um viel. Laut Verfassung ist in den ersten drei Wahlgängen für eine Entscheidung eine Zweidrittelmehrheit vonnöten, ab dem vierten Wahlgang reicht die einfache absolute Mehrheit. Die Gerüchteküche brodelt, es wird taktiert und finassiert, viele Akteure scheinen bis zum letzten Moment ihre Karten nicht aufdecken zu wollen. Vielleicht werden wir schon morgen mehr wissen.
Napolitanos historische VermächtnisAber zunächst müssen wir noch einmal auf den scheidenden Staatspräsidenten Napolitano eingehen. Nicht um ihn schon abschließend zu würdigen – dafür ist es noch zu früh -, aber wegen einer Äußerung, die bei einem seiner letzten Auftritte fiel und in der man auch ein Art politisches Vermächtnis sehen könnte. Vermächtnissen sollte man normalerweise mit besonderem Respekt begegnen. Aber in diesem Fall kann ich nur sagen: Widerspruch, Euer Ehren.
Die Funktion eines Staatspräsidenten besteht u. a. auch darin, der Hüter der nationalen Geschichte zu sein. Deshalb ist das historische Beispiel und dessen Interpretation auch eine seiner Einwirkungsmöglichkeiten auf heutige Entscheidungen. Am 8. April hielt er eine Rede, in der er auf einen besonderen Moment der italienischen Nachkriegsgeschichte hinwies: auf das Jahr 1976, in dem es zu einer Annäherung zwischen den beiden großen Lagern kam, welche sich um DC und KPI gebildet hatten. Das Ergebnis war eine DC-Regierung, die von der KPI toleriert wurde, wofür sie einige Gegenleistungen erhielt. Für alle Zuhörer war die Botschaft klar: Mögen die Parteien auch heute über ihren Schatten springen, mögen sich PD und PdL verbünden oder zumindest arrangieren, um eine Regierung der nationalen Rettung zu ermöglichen.
Der antihistorische KompromissBei Berlusconi rannte diese Botschaft sofort offene Türen ein, er sei zu jedem „breiten Einvernehmen“ bereit, von der gemeinsamen Wahl des neuen Staatspräsidenten bis zur Regierungsbildung. Sein Motiv ist durchsichtig, und es ist nicht das Wohl Italiens. Während Bersani, an den sich diese Botschaft wohl zuallererst richtete, vorerst mit Ablehnung reagierte. Denn eines ist klar: Der historische Vergleich hinkt. In der Mitte der 70er Jahre waren es Männer wie Berlinguer (KPI) und Moro (DC), die einen „historischen Kompromiss“ anstrebten, um die im Kalten Krieg versteinerten Fronten aufzubrechen. Aber Berlusconi ist kein Aldo Moro, denn sein Hauptziel ist es, im ganz persönlichen Interesse „die Bildung einer Regierung gegen die Wahl des Staatspräsidenten, die Einigung über Reformen gegen das sichere Geleit aus seinen Prozessen einzuhandeln“ (M. Giannini, „Repubblica“, 9. April).
Zumal es den „Kompromiss“ zwischen Bersani und Berlusconi gerade gegeben hat, in Gestalt der beiderseits unterstützten Regierung Monti. Ein paar Reformen hat sie gebracht, recht und schlecht, die das Land vielleicht kurzfristig vor dem Bankrott retteten. Aber „historisch“ war dieser Kompromiss nicht, denn die überfälligen Strukturreformen blieben aus. Der Grund ist einfach: Sie sind nur gegen Berlusconi möglich. Deshalb hat Bersani sofort die Falle erkannt. Eine Neuauflage dieses Notbündnisses würde die Reformblockade Italiens festschreiben und die Linke zerstören. Es wäre, wie Giannini zu Recht sagt, ein „antihistorischer Kompromiss“. Bei allem Respekt, Herr Staatspräsident: Sie irren, wenn Sie ihn heute empfehlen.
Eine erste Entscheidung fällt schon bei der jetzt anstehenden Wahl des Staatspräsidenten. Soll er ein Präsident des „breiten Einverständnisses“ zwischen PD und PdL sein, worauf Napolitano drängt, oder ein Präsident der Erneuerung? Ich hoffe und bete, dass Letzteres der Fall sein wird.
Ich stimme dieser Analyse voll zu.
Herr Napolitano sieht vielleicht nur die unmittelbare (perzipierte!) Notwendigkeit einer Regierungsbildung und ist deshalb willens, den Mantel des Schweigens über vieles zu legen.
Er übersieht aber die historische Dimension. Während seit Berlinguer sich die Linke zerfasert hat, hat die Recht sich nur „gehäutet“, ist aber im Grunde immer gleich geblieben: Es ist kein Zufall, dass Berlusconi ein „Geschöpf“ Craxis ist. Dass die Italiener sich dies bieten lassen, ist nur mit einer verkommenen politischen Kultur und einem völligen Versagen der Linken zu erklären. Sie hat es nicht vermocht, das „pawlow’sche“ Antikommunismus-Wahlverhalten eines Grossteils des ital. Elektorats in eine moderne politische Umwelt zu transferieren.
Es müsste ja eigentlich schon zu denken geben, wenn normalerweise konservative Kreise aus dem Geschäfts- und sogar Bankenbereich den Aufstieg Grillos begrüssen, weil nur so eine Reform des italienischen Staats und der Wirtschaft eine reale Chance hat.
Motto dieser Kreise: „Egal, ob sie uns feindlich gesonnen sind, Hauptsache, sie bringen den Laden irgendwie ans Laufen!“
Entwaffnend auch die Diskussion, ob Italien nicht doch „belgische“ Zustände bräuchte:
Die Belgier kolportieren die Tatsache, dass es ihnen während ihrer langen regierungsfreien Zeit (als eine Regierungsbildung nicht möglich schien und nur eine geschäftsführende Reg. im Amt war) als die Zeit ihrer „Glückseligkeit“:
Das Wirtschaftswachstum war in dieser Zeit jedenfalls nicht geringer als im Rest Europas. Nun mag das ein falscher Vergleich sein.
Aber die Historie Italiens kann schon zu Verzweiflung Anlass geben. Ende 1992 sagte einer der momentan gehandelten Präsidenten-Kandidaten, Giuliano Amato:
„Meine Regierung ist eine der Notwendigkeit, nicht der Popularität. Ich versuche den Menschen zu sagen, dass die Dinge nicht so weitergehen können – dass es wirklich Zeit für die Italiener ist, sich dem menschlichen Rennen zu stellen. Wir hatten den Rand eines Abgrunds erreicht, und wir mussten zurücktreten. Ich sage immer, wir leben in einem Vakuum. Frankreich, Dänemark, sogar Britannien haben… Reformen durchgeführt, während wir nur Schulden angehäuft haben…“
(aus dem Wikipedia-Artikel über Amato; das Originalzitat ist aus der Washington Post von Ende 1992).
1992. Und wo waren wir vor Monti?
„Same procedure as every year (or decade)“, würde Freddie Frinton sagen.
Italien braucht die „dritte Republik“ – diesmal nicht nur eine Veränderung der Parteiennamen, sondern wirklich eine radikale Revolution. Deshalb schreibe ich die M5S nicht ab.