Wie hoch ist der Preis?
Der stellvertretende PD-Generalsekretär und neue Ministerpräsident Enrico Letta wurde mit seinen Ministern am vergangenen Wochenende von Napolitano vereidigt. Überschattet wurde die Vereidigung durch Pistolenschüsse, die ein Arbeitsloser vor dem Parlament auf zwei Carabinieri abfeuerte, einer davon ist schwer verletzt und könnte gelähmt bleiben. „Eigentlich wollte ich Politiker treffen“, sagte der Attentäter.
Lettas Regierungsmannschaft besteht aus 21 Ministern: 8 von der PD (2 ohne Geschäftsbereich), 5 von der PdL, 3 vom Zentrum, eine von der Radikalen Partei und 4 überparteiliche „Experten“. Letta selbst stieß 2007 mit dem Partito Popolare, einer Nachfolgepartei der DC, zur PD. Hier gehört er zum zentristischen Flügel, war einer der stärksten Befürworter der Monti-Regierung und gilt als Pragmatiker.
Napolitano entschied sich für ihn, nachdem Berlusconi gegen den Bürgermeister von Florenz, Renzi, und die PD gegen Amato (der zweimal Regierungschef in Krisensituationen und als ehemaliger Craxi-Freund dem Cavaliere genehm war) ihr Veto eingelegt hatten. Letta erklärte, er werde „mit aller Kraft an einer Regierungsbildung arbeiten, nicht jedoch um jeden Preis“.Schon die Vorverhandlungen zeigten die Kompliziertheit des Unternehmens. Die PdL pokerte bis zum letzten Tag und verlangte, Schlüsselressorts mit Reizfiguren wie den ehemaligen Ministern Gelmini und Brunetta, dem früheren Senatspräsidenten Schifani oder gar mit B. selbst zu besetzen. Dass Letta darauf nicht eingehen konnte, war auch Berlusconi klar, es half ihm aber, bei der nachfolgenden „Kompromisssuche“ einiges herauszuholen und auch für ihn wichtige Vetos durchzusetzen, z. B. gegen die Vergabe des Justizressorts an den stellvertretenden Vorsitzenden des Obersten Gerichtsrats, Vietti.
Lettas Regierungsmannschaft
Herausgekommen ist schließlich eine Mannschaft, von der unterschiedliche Signale ausgehen. Einerseits dokumentiert sie das Wiedererstarken Berlusconis: Sein „Delphin“ Alfano wird stellvertretender Ministerpräsident und Innenminister, eine strategisch wichtige Position (u. a. für das neue Wahlgesetz); der PdL-Senator Quagliarello Minister für Verfassungsreform und an die PdL gehen auch die Kernressorts Gesundheit, Landwirtschaft sowie Verkehr und Telekommunikation (letzteres für B. von besonderem Interesse). Die PD hat zwar rechnerisch mehr Minister, aber überwiegend in „leichteren“ Ressorts (Frauen und Sport, Umwelt, Kontakte zum Parlament, Integration, Kultur), mit Ausnahme des Bildungsressorts und des Ministeriums für Angelegenheiten der Regionen, das wegen der Lega bedeutsam ist. Auffällig ist die „katholische Komponente“ der Regierung, denn auch die PD-Minister kommen – wie der Ministerpräsident – von diesem Flügel. So stark, dass manche Kommentatoren sogar von einer „Wiederauferstehung“ der Democrazia Cristiana sprechen
Letta hielt – sich und Alfano ausgenommen – die „alten Parteienbigs“ aus der Regierung heraus. Seine Mannschaft ist jünger, weiblicher (7 von 21 sind Frauen), unverbrauchter. Es gibt zwei PD-Ministerinnen „mit Migrationshintergrund“: die gebürtige Kongoleserin Cecile Kyenge (Integration), gegen die die Lega schon Sturm läuft, und die gebürtige Deutsche und mehrfache Olympiasiegerin Josefa Idem (Frauengleichstellung, Sport, Jugend).
Überparteiliche „Schwergewichte“ in der neuen Regierung sind der Direktor von Bankitalia Saccomanni als Minister für Wirtschaft und Finanzen und der Chef des Statistikinstituts Giovannini für Soziales. Außenministerin wird Emma Bonino von der Radikalen Partei, eine ehemalige EU-Kommissarin mit großer internationaler Erfahrung, die auch als Kandidatin für den Staatspräsidenten im Gespräch war. Das „brisanteste“ Ministerium – Justiz – übernimmt die frühere Innenministerin der Monti-Regierung Cancellieri, eine Verwaltungsbeamtin, die politisch dem Zentrum nah steht (ihr besonders wünsche ich nicht nur ein glückliches, sondern auch festes Händchen …).
Schmerzgrenzen
Über der neuen Regierung schwebt – unausgesprochen, aber allen präsent – die neuralgische Frage von B.s Strafverfahren. Verhält sie sich hier rechtsstaatlich und lässt der Justiz ihren Lauf, wie es Verfassung und Rechtstaatlichkeit verlangen? Oder wird sie schändliche Kompromisse eingehen, um B.s Haut zu retten, vielleicht mit Hilfe ihm zugeschanzter hoher institutioneller Funktionen, z. B. seiner Ernennung zum Senator auf Lebenszeit? Eigentlich unvorstellbar in einem „normalen“ Land, aber in Italien möglich. Wenn es so käme, würde das die ohnehin verletzte italienische Demokratie weiter schwächen – eine Implosion der PD wäre kaum noch abzuwenden.
Eine zweite wesentliche Frage ist, ob die Regierung dem Drängen der PdL nachgibt, die Immobiliensteuer – statt sie sozialer zu gestalten – wieder abzuschaffen oder sie sogar, wie B. im Wahlkampf versprach, zurückzuerstatten. Das wäre nicht nur ökonomisch unsinnig, weil das Geld dann von woanders hergeholt oder wichtige Dienstleistungen gestrichen werden müssten, sondern es wäre auch die Kapitulation vor B.s Populismus. Eine Kapitulation, die allerdings auf Jahre hinaus seine Popularität und Wiederwahl sichern könnte.
Zum Wochenbeginn wird Letta sich der Vertrauensabstimmung in beiden Kammern stellen. Die Rechte und das Zentrum werden vermutlich geschlossen mit Ja stimmen. Bei der PD ist mit einigen „No“ zu rechnen. Aber wahrscheinlich mit weniger Nein-Stimmen als zunächst vermutet, denn manchen PD-Abgeordneten könnte es leichter fallen, für ein Bündnis mit B. zu stimmen, als für Prodi als Staatspräsidenten. Leider.
Letta kann vielleicht nur noch retten, was zu retten ist. An einem ’salvacondotto‘ für B. wird er wohl nicht herumkommen.
Der PD steht erwartungsgemäss in den neuesten Umfragen sehr schwach da (SWG-Umfrage, siehe ‚clandestino.web‘). M5S ist darin bereits an die zweite Stelle hinter dem PDL gerückt. Natürlich ist dies vorläufig nur eine Momentaufnahme. Aber stabilisieren kann sich der PD wohl erst nach einer völligen Generalüberholung.
Mit einer neuen Führungsriege und einer stärkeren Sozialdemokratisierung, um das „Kommunismus-Gespenst“ in den Befürchtungen vieler italienischer Wähler zu bannen.
Viele Minister sind Neulinge oder haben wenig Erfahrung. Einerseits macht das Hoffnung auf einen Neuanfang, andererseits weckt dies Befürchtungen, dass sie Spielball der trickreichen alten Garde in den Parteiapparaten sein könnten.
Sobald die Regierung in den Augen der Öffentlichkeit Erfolge vorweist (und die anziehenden Frühindikatoren sowie die auf Talfahrt gehenden Renditen legen diese Möglichkeit nahe), wird irgendwer die Reissleine ziehen.
Diese Regierung könnte an einem Erfolg sterben.
Der Besuch Lettas in Berlin wirft die Frage auf, was seine Wirtschaftspolitik sein wird.
Er fordert eine Neuverhandlung der Defizit-Grenzen in Europa. Dass man damit die Büchse der Pandora öffnen und einige Nordländer (neben Deutschland vor allem Finnland, Tschechien und die Niederlande) auf die Idee bringen könnte, auch deren Einzahlungen in den ESM oder deren Stimmrechte in der EZB neu zu verhandeln, sieht er vielleicht aus Unerfahrenheit nicht.
Politisch sind seine Forderungen nach einer „europäischen Wachstumspolitik“ verständlich, sachlich eher befremdlich.
Denn wenn er in Italien eine Wachstumspolitik machen will, nur zu. Niemand hindert ihn.
Aber warum sollte sie „europäisch“ sein?
Wachstumspolitik in Italien – genau wie in anderen Problemländern – muss vor allen Dingen Reformen bedeuten. Darüber wird in der italienischen Presse und in der Politik sehr wenig gesprochen.
Statt dessen kapriziert man sich allein auf die Sparforderungen des Nordens.
Vielleicht weil sie sich besser für das Drechseln von wirtschaftlichen Dolchstosslegenden eignen.
Motto: Italien würde es gut gehen, wenn die böse Merkel mit ihrem Sparen nicht wäre.
Aber Italien allein mit Konjunkturstimuli aus den Problemen zu pushen, käme der Vorstellung gleich, ein todkrankes Pferd mit Doping zum Rennchampion zu machen. Erst muss das Tier genesen.
Dabei hätte Italien – rein fiskalisch betrachtet – jetzt durchaus einigen Spielraum. Dabei ist nicht nur die gesunkene Neuverschuldung von unter 3% des BIP massgeblich. Von der Finanzpresse kaum beachtet, aber entscheidend ist der Fakt, dass der Anteil der italienischen Gläubiger an der römischen Staatsschuld rasant wächst, und der der Ausländer fällt. Dies ist mehr als alles andere eine wichtige Stellschraube für die Renditen von Government Bonds. Die steigenden BTPs spiegeln dies wider.
Italien braucht also keine „europäische“ Wachstumspolitik. Durch Reformen könnte es allein beträchtliche Wachstumskräfte freisetzen. Und wenn es dann die Wirtschaft durch Stimuli zusätzlich ankurbeln will, Kapital wäre da.
Es könnte auch ganz einfach durch gute, alte, traditionelle linke Umverteilungspolitik gewonnen werden.
Indem man die eigenen Reichen dazu bringt, mehr und vor allem zuverlässig Steuern zu bezahlen. Denn die Steuer- und Abgabenlast in Italien ist nur um Haaresbreite höher als die Deutschlands und weit unter der von Staaten wie Belgien, Frankreich, Österreich, Dänemark oder Schweden.
In erster Linie ist also Rom selbst in der Pflicht, dann erst Europa.