Der Straßenpriester von Genua
Als ich zum ersten Mal von einem guten italienischen Freund das Wort ‚Mangiaprete’ hörte, stockte unser Gespräch. Langsam musste ich mir den Sinn des Wortes übersetzen. ‚Mangiare’ heißt essen und ‚Prete’ ist der Priester. Wie kann man einen Priester essen oder noch schärfer, einen Pfaffen fressen…? Und dann bekannte sich mein Freund auch noch klar und deutlich zu seinem antiklerikalen Kannibalismus. Wer in den fünfziger und sechziger Jahren in dem sehr katholischen Milieu des Oldenburger Münsterlandes aufwuchs, muss bei diesem italienischen Wort auch noch dann schlucken, wenn er sich aus den tiefsten Untiefen eines provinziellen Katholizismus mühsam befreit hat. Umso vertrauter mir aber mit den Jahren die italienischen Verhältnisse wurden, umso besser konnte und kann ich verstehen, wenn man sich als ‚Mangiaprete’ outet.
Mitspieler der Macht
Über lange Zeit, ja Jahrhunderte hat der Katholizismus die italienische Gesellschaft tief geprägt, so wie ein Gebirgsfluss unentwegt tag und nacht langsam einen Gesteinsbrocken formt. Überall hatte die Katholische Kirche ihre Finger im Spiel um die Macht in der Gesellschaft und die Seelen der Menschen. Und diese Finger waren (und sind es immer noch….) weiß Gott nicht immer sauber. Dass über Jahrzehnte hinweg die ‚Democrazia Cristiana’ die Politik in Italien hegemonial beherrschte, verdankte sie auch dem Vatikan, der Kurie und der italienischen Bischofskonferenz. Niemand verkörperte diese enge ‚christliche Geschwisterliebe’ so sehr wie der jüngst verstorbene Giulio Andreotti. Politiker von seinem Schlage gingen morgens in die Frühmesse und samstags in den Beichtstuhl, ließen sich vom Dorfpriester, Bischof und Kardinal segnen, spielten den unschuldigen ‚povero cristiano’, um dann hemmungslos sich selbst, die eigenen Vettern, Mitbrüder und Mitschwestern mit Pfründen und Vergünstigungen zu bedienen. Wer in diesem Milieu der Scheinheiligkeit, Bigotterie und ‚gottgefälligen Korruption’ aufgewachsen ist und sich von anderen, auch anderen christlichen Werten leiten ließ, hatte (und hat) jedes Recht, sich zum ‚antiklerikalen Kannibalismus’ zu bekennen.
Alternative von unten
Aber es gab immer auch innerhalb des italienischen Katholizismus, vornehmlich an der Basis, in den Gemeinden und Pfarreien einen ganz anderen Typus von Priester, dem die kirchliche Hierarchie, einschließlich deren christdemokratische Weihrauchschwenkern herzlich wenig bedeutete und der es nur selten bis zum Bischof brachte. Außerhalb Italiens ist am bekanntesten jene von Giovannini Guareschi geschaffene Figur des „Don Camillo“, der hemdsärmelig, aber immer auch augenzwinkernd gegen den kommunistischen Bürgermeister Peppone seine Pfarrschafe verteidigte. Interessanter und bedeutender als die Kunstfigur Don Camillo aber waren Priester wie der in der Po-Ebene von faschistischen Squadristi erschlagene Don Minzoni, wie der unorthodoxe Priesterlehrer Don Milani von der Schülerschule von Barbiana, wie Don Mazzi, der in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts inmitten des Florentiner Arbeiterstadtteils Isolotto eine Basisgemeinde gegen den Willen des Bischofs gründete. Oder wie eben Don Gallo, der ‚Straßenpriester von Genua’.
Der ‚verrückte Kommunist’
In den lähmenden Jahren, jetzt schon Jahrzehnten, des aggressiven Polit-Egoisten Berlusconi und einer desorientiert taumelnden politischen Linken war Don Gallo immer eine der wenigen Lichtfiguren der
italienischen Szene. Sein konventionelles klassisches ‚Pfaffenornat’ war für ihn genauso typisch wie die nie ausglimmende Zigarre im Mund. Er verstand sich immer als Hirte der Vergessenen, der an den Rand der städtischen Luxusmeilen gedrängten ‚armen Schlucker’, der Prostituierten, Transsexuellen, Drogenabhängigen, der irgendwo und irgendwann im Hafen von Genua gestrandeten Letzten der Gesellschaft‚ der ‚Ultimi’. Dass er von der Bischofskonferenz und der vatikanischen Kurie als ein ‚matto Comunista’ zuerst bekämpft, in den letzten Jahren mehr belächelt wurde, hat Don Gallo nie interessiert. In einer fast schon naiven Gläubigkeit fühlte er sich nur dem Handwerkerssohn Jesus von Nazareth und dem frommen Menschenfreund Franziskus von Assisi verpflichtet. Don Gallo hörten und klatschten auch die überzeugtesten ‚Mangiapreti’ zu. Jetzt ist dieser ‚bunte Vogel in Priesterkleidung’, dieser ‚anarchistische Christ’ und ‚Bella Ciao-Prete’ in seinem geliebten Genua gestorben. „Addio“ könne man nicht zu ihm sagen, schrieb ein Kommentator in der linken Tageszeitung ‚L’Unità’. Seine Ideen und seine Leidenschaft für eine andere, gerechtere Gesellschaft leben weiter. Dass einer wie er in der heutigen italienischen Krisengesellschaft fehlt, ist eigentlich eine abgedroschene Plattitüde – aber es stimmt ja.