Tanz ums Wahlgesetz
Es ist schon erstaunlich, wie sich die Regierung Letta am Nasenring herumführen lässt – zumindest in Fragen, die B. wirklich interessieren.
Das Wahlgesetz ist eine solche Frage. Denn seine geltende Fassung – das berühmte „Schweinegesetz“ (Porcellum) – ist ohne jede Scham auf die Ein-Mann-Partei zugeschnitten, dessen Leader die nächste Wahl gewinnen und alles unter Kontrolle halten will. Es zwingt die Parteien schon vor den Wahlen in Wahlbündnisse unter einem Spitzenkandidaten, indem es dem Bündnis mit relativer Mehrheit in der Abgeordneten-Kammer eine absolute Mehrheit verspricht. Und da B.s „Volk der Freiheit“ schwach an der Basis ist, verhindert es auf lokaler Ebene persönliche Duelle zwischen konkurrierenden Kandidaten und überlässt bei der Kandidaten-Auswahl alle Macht den Parteizentralen.
Eine gescheiterte Initiative zur sofortigen WahlrechtsänderungInzwischen hat sogar das oberste italienische Kassationsgericht Zweifel am „Porcellum“ und rief das Verfassungsgericht an. Dessen Entscheidung wird im Herbst erwartet. Eigentlich Grund genug, um schon jetzt eine Änderung des Wahlrechts vorzunehmen, welche seine schlimmsten Pferdefüße aus der Welt schafft. In diesem Sinne ergriff dann auch der PD-Abgeordnete Roberto Giachetti Ende Mai die Initiative, um wieder zum Mehrheitswahlrecht zurückzukehren, das vor dem „Porcellum“ galt, und sammelte dafür unter den Abgeordneten über 100 Unterschriften. Die Initiative scheiterte nicht nur am Widerstand der PdL und der 5-Sterne-Bewegung (die auch hier kein Bündnis mit der PD wollte), sondern schon an der PD selbst: Erstens weil sie sich nicht einig ist, welches Wahlrecht nun eigentlich statt des „Porcellum“ eingeführt werden soll; und zweitens weil sie sich von der PdL beeindrucken ließ, die sofort schwerstes Geschütz auffuhr: Dies wäre das Ende der Regierung Letta usw.
Nun das Trauerspiel. Dass das Wahlrecht verändert werden muss, kann nach dem Urteil des Kassationsgerichts auch die PdL nicht mehr öffentlich bestreiten. Aber sie kann versuchen, die Änderung in eine ferne Zukunft zu verschieben. Deshalb setzte sie für die Regierung Letta folgenden Fahrplan durch: Zu ihrem Arbeitsprogramm gehören auch Verfassungsreformen, die in einem aufwendigen Verfahren erarbeitet werden sollen. Zunächst geht ein Experten-Gremium von Verfassungsrechtlern an die Arbeit, um dafür bis zum Herbst erste Eckpunkte zu formulieren, welche dann einem parlamentarischen „Komitee der 40“ (20 Abgeordnete aus jeder Kammer) zur weiteren Bearbeitung vorgelegt werden. Das parlamentarische Verfahren, wenn es zu einem Ergebnis führt, würde frühestens im Herbst 2014 zum Abschluss kommen.
Auf die lange Bank
Obwohl die Reform des Wahlgesetzes keine Verfassungsänderung voraussetzt, bestand die taktische Meisterleistung der PdL darin, sie in dieses Paket „konstitutionelle Reformen“ einzuschleusen und damit auch prozedural an dessen Verabschiedung zu binden. U. a. mit dem Argument, dass man ja erst über B.s Steckenpferd, den „Presidenzialismo“, entscheiden müsse, bevor man über das Wahlgesetz reden könne (was Unsinn ist, beides lässt sich durchaus voneinander trennen). Unbegreiflicherweise, aber wohl um des lieben Friedens willen, ließ sich die PD auf diese Koppelung ein.
Womit B. schon viel erreicht hat:
Erstens ist damit ausgeschlossen, dass sich die PD für die Wahlrechtsänderung eine andere Mehrheit (z. B. mit den „Grillini“) suchen kann – eigentlich gehört das Wahlrecht zu den Prärogativen des Parlaments und nicht der Regierung. Womit sich B. in dieser Frage ein Vetorecht gesichert hat. Es ist unklar, wie ein unter diesen Umständen verändertes Wahlgesetz aussehen könnte – die Positionen scheinen unvereinbar.
Zweitens wird das „Porcellum“ zumindest bis zum Herbst 2014 weiter bestehen. Bis dahin kann Berlusconi die Regierung Letta u. a. damit erpressen, dass bei vorzeitigen Neuwahlen weiterhin ein Wahlgesetz zur Anwendung käme, dessen undemokratischer Charakter gerichtsnotorisch ist und jeden Wähler abstößt, der wissen will, wen er wählt. Und das B. in der Abgeordnetenkammer vielleicht sogar die absolute Mehrheit beschert.
Taktisch ausgespielt
B. ist ein Meister der politischen Erpressung. Erpressung 1: Er nutzt die Bildung der gemeinsamen Regierung Letta, um die Änderung des Wahlgesetzes auf die sehr lange Bank zu schieben. Erpressung 2: Damit kann er seine Drohung, dieser Regierung ja jederzeit wieder „den Stecker rausziehen“ zu können, zum weiteren Druckmittel machen. Um sie gegenüber seiner sozialen Demagogie (z. B. Abschaffung der Wohnungssteuer) noch willfähriger zu machen, mit der er sich die Startlöcher für den nächsten Wahlkampf gräbt. Vielleicht sogar gegenüber seinem Projekt des „Presidenzialismo“?
Zur Erpressung gehört allerdings auch der, der sich erpressen lässt. In diesem Fall ist es die PD, die sich allzu vorbehaltlos auf die Koalition mit B. einließ. Und damit auch auf dessen Manöver, die Änderung des Wahlrechts ohne Not in das Paket „konstitutionelle Reformen“ aufzunehmen. Die PD hätte sich dem widersetzen können – und dabei vielleicht sogar die Unterstützung von Staatspräsident Napolitano gefunden. Der zwar die PD in diese Regierung trieb, aber schon seit Jahren auf die Abschaffung des „Porcellum“ drängt.
Noch gibt es in der PD Stimmen, die sich dem Spiel widersetzen. Zu ihnen gehört Senatspräsident Grasso, der vor wenigen Tagen daran erinnerte, dass es jederzeit in die Kompetenz des Parlaments falle, ein neues Wahlgesetz auf den Weg zu bringen. Die PdL reagierte mit einem Aufschrei: Damit überschreite er seine Kompetenzen, das sei gegen die „Tagesordnung“.