„Globalisierung der Gleichgültigkeit“


Vorbemerkung der Redaktion

Gestern hat das italienische Kassationsgericht den Termin, an dem es das definitive Urteil im Mediaset-Prozess – für B. geht es um 4 Jahre Gefängnis und ein 5-jähriges Verbot, politische Ämter zu bekleiden – verkündet wird, schon auf den 30. Juli festgelegt. Der Grund: andernfalls wäre ein Teil der Straftaten am 1.8. verjährt. Seitdem befindet sich die PdL in heller Aufregung und schreit nach „Staatsstreich“. Am liebsten hätte sie aus Protest auf Tage hinaus die Arbeit beider Kammern eingestellt. Herausgekommen ist nur die Unterbrechung der parlamentarischen Arbeit für einen halben Tag, aber der Kontrast könnte kaum größer sein: In Rom versucht eine Partei eine Regierung zur Geisel zu nehmen, um einen Leader zu schützen, dem eine Verurteilung wegen Steuerhinterziehung droht. Und in Lampedusa bittet ein Papst um Verzeihung für das, was Europa den Flüchtlingen antut, die es zu erreichen suchen. Auf die Ereignisse in Rom werden wir noch eingehen. Zunächst zu Lampedusa.


„Ein Stachel in seinem Herzen“, der ihn gepeinigt habe, seien die Nachrichten über die im Meer gestorbenen Flüchtlinge, so Franziskus in seiner Messpredigt auf der Insel Lampedusa am vergangenen Montag. „Und dann wusste ich, dass ich hierher kommen musste: zum Beten, um ein Zeichen der Nähe zu setzen, aber auch um unser Gewissen wachzurufen, damit sich das Geschehene nicht wiederholt – es darf sich nie wiederholen, bitte“ sagte er fast flehend.

 Zum Gedenken an die ertrunkenen Flüchtlinge

Zum Gedenken an die ertrunkenen Flüchtlinge

Der Papst hatte Lampedusa zum Ziel seiner ersten Reise gewählt. Er warf von einem Boot aus einen Blumenkranz zum Gedenken an die Opfer ins Meer und begegnete auf der Insel Einwohnern und Flüchtlingen. Anschließend zelebrierte er eine Messe auf einem Bootswrack, das als Altar diente. Er trug eine violettfarbene Stola – die Farbe, die Trauer und Reue symbolisiert.

„Wo ist Dein Bruder?“

Francescos Worte waren eindringlich und klar. Hier einige Passagen:

„Ich möchte heute einige Worte sprechen, damit unser aller Bewusstsein wachgerüttelt wird und wir dazu bewegt werden, nachzudenken und unser Verhalten konkret zu ändern. ‚ Adam, wo bist Du?‘ war nach dem Sündenfall die erste Frage Gottes an den Menschen. Adam wähnt sich übermächtig, will alles beherrschen, sich an die Stelle Gottes setzen. Und die Harmonie zerbricht, der Mensch irrt und das wirkt sich auch auf die Beziehungen zu dem Anderen aus, der nicht mehr mein geliebter Bruder ist, sondern nur jemand, der mein Leben und meinen Wohlstand stört. Und Gott stellt die zweite Frage: ‚Kain, wo ist Dein Bruder? Die Stimme seines Blutes schreit hoch zu mir“, sagt Gott. Das ist eine Frage, die nicht an andere gestellt wird, sondern an mich, an dich, an jeden von uns. Diese Schwestern und Brüder haben versucht, schwierigen Verhältnissen zu entfliehen, um etwas Ruhe und Frieden zu finden; sie suchten für sich und ihre Familien einen besseren Platz zum Leben, doch sie haben den Tod gefunden … ‚Wo ist Dein Bruder?‘ Wer ist für dieses Blut verantwortlich? …Alle und niemand … Wir alle antworten so: Ich war es nicht, ich habe nichts damit zu tun, vielleicht waren es andere, ich nicht! … Keiner fühlt sich in der Welt dafür verantwortlich, wir haben den Sinn für Brüderlichkeit verloren … Die Wohlstandskultur lässt uns nur an uns selbst denken, sie macht uns unempfindlich für die Notschreie der anderen … Sie führt uns zur Gleichgültigkeit, führt zur Globalisierung der Gleichgültigkeit … Wer von uns hat geweint wegen des Todes dieser Brüder und Schwestern? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder im Arm trugen? Um die Männer, die etwas Hilfe für ihre Familien suchten? … Bitten wir den Herrn um die Gnade, über unsere Gleichgültigkeit weinen zu können, über die Grausamkeit in der Welt, in uns und in denjenigen, die in der Anonymität sozio-ökonomische Entscheidungen treffen, die zu solchen Tragödien führen … Oh Herr, wir bitten Dich in dieser Liturgie, die eine Liturgie der Reue ist, um Verzeihung wegen der Gleichgültigkeit gegenüber so vielen Brüdern und Schwestern. Wir bitten Dich, Vater, um Verzeihung für jene, die sich in ihrem Wohlstand abgeschottet und ihr Herz verhärtet haben. Verzeihung für jene, die mit ihren Entscheidungen auf Weltebene die Situationen verursacht haben, die zu diesen Dramen führen. Verzeihung, Herr.“

Franziskus spricht auch zu Europa

Die Botschaft des Papstes ist global: sie richtet nicht nur an die Flüchtlinge, an die Einwohner Lampedusas, an Italien. Sie richtet sich an Europa und die Welt. An jene, die in den Herkunftsländern der Flüchtlinge für Not, Gewalt und Krieg verantwortlich sind. An die europäischen Länder, die sich abschotten und die Verantwortung auf die Länder abwälzen, die das Pech haben, als Tor zu Europa für die Flüchtlinge am ehesten erreichbar zu sein: Italien, Griechenland, Spanien. So nicht, sagt Franziskus. Flucht und Migration sind global verursachte Probleme, die einer Globalisierung der Verantwortung anstatt der „Globalisierung der Gleichgültigkeit“ bedürfen.

Wird die Botschaft erörtert werden? Unwahrscheinlich. Abgesehen von Italien, ist von Reaktionen europäischer Regierungen bzw. „Entscheidungsträger“ auf die päpstlichen Worte nichts bekannt. Das Kartell der Gleichgültigkeit hält, auch bei denjenigen, die sich gerne auf das Christentum und die christlichen Werte berufen. Doch das tut der Bedeutung der päpstlichen Botschaft keinen Abbruch. Sie ist in ihrer evangelischen Einfachheit kompromisslos, sogar hart. Sie macht die Flucht in die Verantwortungslosigkeit zumindest schwieriger.

In Italien selbst sind die Reaktionen erwartungsgemäß gespalten. Auf der einen Seite Dankbarkeit und Zustimmung, z. B. seitens der Vorsitzenden der Abgeordnetenkammer Boldrini (ehemals Vertreterin der UNHCR), der Parteien aus dem linken Spektrum und natürlich der kirchlichen und nichtkirchlichen NGOs, die sich für die Integration von Migranten und Flüchtlinge engagieren. Auf der anderen Seite der ehemalige PDL-Fraktionschef Cicchitto, der süffisant erklärte „Predigen ist eine Sache, Regieren eine andere“. Ganz zu schweigen vom Vertreter der (in katholischen Gegenden besonders präsenten) Lega Nord, Erminio Boso, der (ich schäme mich, seine Worte niederzuschreiben) die päpstliche Predigt wie folgt kommentierte: „Das schert mich einen Dreck. Wenn so ein Boot untergeht, lache ich darüber“. Wäre ich gläubig, würde ich mit Franziskus rufen: „Oh Herr, verzeihe ihm – auch wenn er sehr wohl weiß, was er tut“.