Chronist einer anderen Zeit – zum Tode des Journalisten Nello Ajello
Diesen Nachruf schickte uns Carl Wilhelm Macke. Ajello, geb. 1930, starb am 11. August.
Der Journalist, so hat es einmal Indro Montanelli, der vielleicht wichtigste, aber auch umstrittenste italienische Journalist der Nachkriegszeit formuliert, „schreibt auf Wasser und ist vergänglich wie ein Schmetterling“. Eine wunderbar poetische Definition eines ganz und gar nicht poetischen Berufsstandes. Bis vielleicht zur Tagesmitte gehört demnach dem Artikel eines Journalisten noch eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit. Dann jedoch eigne sich das Zeitungspapier allenfalls noch zum Einwickeln von Gemüse. So jedenfalls sah es Luigi Pintor, ein anderer großer, im Gegensatz zu Montanelli aber eher politisch linker Journalist.
Erinnerung an ein zivileres ItalienVielleicht hätte der jetzt in Rom verstorbene Nello Ajello ähnlich formuliert, aber die Bedeutung seines journalistischen Lebenswerkes hätte er damit unterschätzt. Tagesaktuell hat er in den letzten Jahren im Gegensatz zu Montanelli und Pintor ohnehin nicht mehr geschrieben. Er war in der römischen Tageszeitung ‚La Repubblica’ mit seinen unendlich vielen Nekrologen auf andere verstorbene Politiker und Intellektuelle und seinen Erinnerungen an Daten der italienischen Geschichte, vornehmlich der Jahre nach dem Weltkrieg, zu einer Institution für das kollektive Gedächtnis nicht nur der Zeitung, sondern auch für die laizistische, linksliberale Öffentlichkeit Italiens geworden. Lässt man die nicht mehr zu zählenden Porträts von den ganz großen und nicht ganz so großen Figuren des politischen und kulturellen Lebens Italiens Revue passieren, dann wird einem schwindelig. Sein Gedächtnis muß phänomenal gewesen sein, und wo es ihn in Stich ließ, muss er auf ein riesiges Archiv an Dokumenten schnell und jederzeit Zugriff gehabt haben. Er bewegte sich mit absoluter Souveränität und dem Wissen von oft scheinbar unbedeutenden biographischen Details in einer Welt von Politikern, Schriftstellern, Journalisten, Regisseuren und Schauspielern, die heute Tag für Tag mehr aus der öffentlichen Aufmerksamkeit herausfallen. Wer kennt denn von der Generation der heute politisch und kulturell Aktiven Namen wie Giacomo Debenetti, Franco Fortini, Alessandro Galante Garrone, Carlo Arturo Jemolo, Mario Pannunzio, Ugo La Malfa, Natalia Ginzburg, Mario Soldati, Ennio Flaiano und und und…? Namen, die für eine Nachkriegskultur stehen, in der für ein anderes und zivileres Italien gestritten und gekämpft wurde, als es sich heute präsentiert.
Gegen die Einebnung aller Unterschiede
War es nicht ein zentrales Ziel des ‚Berlusconismus’, das historische Gedächtnis der Italiener soweit auszutrocknen, dass alles als gleich bedeutend (und damit unbedeutend) angesehen wird? ‚Rechts’ wie ‚Links’, Resistenza wie Faschismus, Republikanismus wie Monarchismus, Filmkunst eines Fellini wie ‚L’Isola dei famosi’ (Reality-Show in Rai 2, die Red.)? Gegen die Einebnung aller fundamentalen Unterschiede und die radikale Kommerzialisierung des Alltags, die Berlusconi nicht erfand, aber mit Brachialegoismus in die italienische Gesellschaft einkerbte, erinnerte Nello Ajello an Personen und Ereignisse, in denen andere, zivilere Werte aufschienen. „Ich hatte immer eine gewisse Sympathie für eine liberale, laizistische Demokratie, die sich resistent zeigt gegen utopische Versuche und jede Form von zweideutigem Sektierertum.“ Vielleicht lässt sich mit diesem Bekenntnis keine ‚Realpolitik’ betreiben, aber es reicht, um guten Journalismus zu machen. Der Journalist, so definierte Ajello einmal ein Dilemma seiner Profession, steht immer im Zwiespalt. „Entweder ist er ein Professor, der zwar viel weiß, aber nicht schreiben kann. Oder er kann gut in Worten ausdrücken, was er aber nicht weiß.“
Generationen von Lesern der ‚Repubblica’ – und Journalisten – hatten jahrzehntelang das Glück, Artikel von Nello Ajello zu lesen, in denen man als Jüngerer noch eine Ahnung vermittelt bekam von einem Italien, das einmal anders gedacht war als das Land, über dessen heutige politische Kultur man auch in anderen europäischen Ländern immer mehr verzweifelt. Man kann da nur hoffen, dass die Erbschaft eines Nello Ajello und anderer aus seiner Generation nicht ‚vergänglich wie ein Schmetterling’ ist und nicht auf Wasser geschrieben wurde.