„Silvio unser im Himmel“
Ich wurde gefragt: Ist man in Italien immer noch bereit, Berlusconi zu wählen? Warum die Frage wohl umformuliert werden sollte.
Am 15. August erreicht die italienische Sommersaison ihren Höhepunkt. Das ganze Land macht dicht. Schon am Tag davor wünscht man sich gegenseitig einen guten „Ferragosto“. So heißt dieser Feiertag, an dem nach katholischer Tradition die Mutter Jesu zum Himmel fuhr. Diesmal konnten die Strandurlauber, die ihren Blick zum Himmel wandten, eine Vision anderer Art genießen. „Wir sind für Silvio“, „Forza Silvio“ lasen sie auf langen von Flugzeugen gezogenen Spruchbändern. Ähnliche Poster im Riesenformat hingen schon letzte Woche in den größten Städten Italiens.
Ein Wohltäter und seine Neider
Warum meinen der ehemaligen Premierminister und seine Berater, sich so etwas erlauben zu dürfen, unmittelbar nachdem seine Haftstrafe für Steuerhinterziehung endgültig bestätigt wurde? Gibt es immer noch Wähler, die bereit sind, ihm und seiner Partei trotz aller Skandale und Prozesse ihre Stimme zu geben? Die Ergebnisse der Februar-Wahl und die aktuellen Umfragen sprechen dafür, dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird. Dem durchschnittlichen Betrachter aus Deutschland fällt es nicht leicht, ein solches Phänomen zu begreifen. Die Poster dieses Sommers geben eine erste Antwort. Gezeigt wird ein Silvio Berlusconi, der allein auf einer Bühne steht; jubelnde Menschenmengen zu seinen Füßen. Seit 1994 ist das Bild des vom Volk geliebten Mannes sein Erfolgsrezept.
Mit solchen Darstellungen feiert täglich die Mehrheit der Medien die Geschichte des großzügigen Menschen Silvio, der seinen Mitmenschen nur Gutes tun möchte. Sogar minderjährige Bunga-Bunga-Prostituierte werden als arme junge Frauen portraitiert, die durch seine finanzielle Unterstützung die Chance für ein besseres Leben bekamen. Steuer habe er nur hinterzogen, weil das italienische Steuersystem ungerecht gegenüber erfolgreichen Unternehmern sei. Seine Richter und politischen Gegner: Menschen voller Neid, welche die vielen guten Absichten dieses reichen Wohltäters gar nicht begreifen können. Auf der Medienebene wird ein Schauspiel inszeniert, in dem die Bürger nicht Wähler, sondern das Publikum des persönlichen Dramas eines Opfers der Ungerechtigkeit sind.
Einheitsfront der Steuerhinterzieher
In Italien fand dieses Schauspiel schon immer seine Liebhaber. Niemand soll glauben, dass es nur einfache und ungebildete Menschen sind, die solchen Narrationen Glauben schenken. Es gibt eine Gruppe von Bürgern ganz besonderer Art, die in dem ehemaligen Premierminister immer noch ihren besten Repräsentanten sehen. Für sie bleibt er eine heroische Identifikationsfigur. Zu ihnen gehören Bürger, die hoffen, von der Lockerheit Berlusconis in Sachen Steuerregelungen und Finanzkontrollen profitieren zu können. Sie vermissen die vergangene Ära der Lässigkeit. Studien konnten beweisen, dass es im spezifischen Fall Italiens nicht die 2008 weltweit explodierte Spekulationsblase der Finanzmärkte war, sondern vor allem die systematische Steuerhinterziehung in jedem produktiven Bereich, welche die heutige Wirtschaftskrise auslöste. In den Augen dieser besonderen Wähler bleibt die Abschaffung jeder staatlichen Einkommenskontrolle die einzig wünschbare politische Reform.
Diese Bürger zählen wohl zu den Wenigen, die sich laut Statistik im „Ferragosto“ 2013 noch einen Urlaub leisten können. Angenommen, Berlusconi dürfte erneut kandidieren, müsste die anfangs gestellte Frage wohl so umformuliert werden: Wie stark müssen die Steuerhinterzieher erst die Wirtschaftskrise am eigenen Leib spüren, bevor sie endlich meinen, sich eine Stimme für den „großzügigen Silvio“ nicht mehr länger leisten zu können?
Wir waren gerade 12 Tage in Deutschland, wo tatsächlich kaum jemand versteht, wie B. es immer wieder schafft, gewählt zu werden, und wo man glaubt, nun sei er tatsächlich weg vom Fenster (eigentlich kapiert man überhaupt nicht, was in Italien geschieht, und die deutschen Medien sind daran nicht unschuldig), deshalb freue ich mich sehr über den Artikel, stimme ihm uneingeschränkt zu und möchte ihm noch einige Beobachtungen hintanstellen:
Kommt man wie ich aus einem Land, wo ein Teil der Bevölkerung insgesamt doch noch glaubt, man selbst sei Teil des Staates und der Kommune, und wo man Staatspräsidenten – flapsig gesagt – wegen 400 Euro feuert, kann man B.s Durchhaltevermögen tatsächlich kaum verstehen.
Aber Italien ist nicht Deutschland (was häufig aber auch ganz gut so ist).
Nach meinem Empfinden stehen Italiener dem Staat, der Gemeinde etc sehr viel reservierter gegenüber als Deutsche (was zählt, ist die Familie), und B. verkörpert dieses Misstrauen gegenüber der Obrigkeit virtuos (er selbst ist ja immer einer „von uns“, immer Opfer der „roten Roben“ oder der Neider – genau wie wir selbst, wenn wir eine Strafe für zu schnelles Fahren bekommen).
Auch scheint mir die Einschätzung bestimmter Vergehen in Italien (wenn man das denn so verallgemeinern kann, ich tu es einfach mal) eine völlig andere: drängelt sich jemand erfolgreich vor, gilt das kaum als tadelnswert (damit hält man sich eh sehr viel mehr zurück), auch wenn viele dabei Schaden nehmen, es gilt oftmals eher als „furbo“ – schlau wie ein Fuchs – und andere auszutricksen (besonders eine schweigende Gemeinschaft, mit der man eh nicht viel am Hut hat), das wird vielfach mit (mehr oder weniger) heimlichem Applaus bedacht. Haben die anderen eben nicht gut aufgepasst!
B. gelingt es immer wieder, seine Schweinereien in diesem im Wir-Gefühl weichgezeichneten Licht erscheinen zu lassen.
Das italienische Steuersystem hilft dabei eigentlich, wo es nur kann: es ist nämlich schlicht ein einziger Wahnsinn, das deutsche erscheint (aus meiner Sicht) dagegen paradiesisch und geradezu himmlisch gerecht. (Auch) deshalb zahlt keiner meiner Bekannten hier in Italien alle Steuern, wenn er es irgendwie vermeiden kann (sonst „steuert“ man nämlich an den Rand der Pleite), und eigentlich versteht deshalb jeder, dass auch B. das so macht (und dass er darin einfach besser ist als wir, kann man ihm ja wohl nicht zum Vorwurf machen).
Hinzu kommt, dass für viele einfach die Alternativen fehlen. Schön, B. füllt sich die Taschen mit öffentlichen Geldern, aber welcher Politiker tut das schließlich nicht? Er scheffelt viel mehr? Bedeutet nur, dass er es halt besser kann, also wählt man besser gleich ihn als irgend eine Flasche.
Außerdem ist er einfach immer am besten drauf – Probleme ausblenden, lustig sein, fare bella figura, es wird schon werden, und wenn nicht, kann man eh nichts machen, und so lange noch einer der vielen Verwandten einen Job beim Staat hat (oder einen kennt, der einen kennt, der einen kennt), bleibt der Teller schon nicht leer.
Diese m.E. häufig zu findende Grundhaltung wird – und das ist für mich einer der Hauptgründe für B.s ungebrochenen Erfolg – durch sämtliche von ihm gesteuerten Medien in die Köpfe gehämmert (neben der Opfertheorie, dem Kommunismusgespenst und der Fabel, alle könnten glücklich sein, wenn es die Deutschen nicht gäbe).
Nach meiner Beobachtung verbringen Italiener bisweilen den ganzen Tag irgendwie vor der Glotze (beim Bügeln, im Restaurant, immer macht die Kiste „compania“, man will und kann einfach nie nur mit sich selbst allein sein), und wer einmal einige Wochen lang italienisches Fernsehen „genossen“ hat, wird kaum leugnen können, dass es zur völligen Verblödung zumindest nicht ungeeignet ist.
Und die Medien, die B. nicht direkt steuert (gibt es ja):
Eine freie oder wirklich unabhängige Presse sucht man mittlerweile leider ziemlich vergebens (was dem Land im entsprechenden Ranking einen Platz irgendwo zwischen 50 und 60 eingebracht hat).
Bleiben noch die Mafia und Ruby. Erstere hat es – wie einst im „Paten“ beschrieben – wohl geschafft, wie ein Pilzgeflecht unsichtbar in alle Bereiche der politischen und wirtschaftlichen Macht hinein zu wachsen, die Dinge nach ihrem Willen laufen zu lassen und sich ihren Anteil unbemerkt zu sichern. Ab und zu kommt noch eine Warnung („Keine Schwulen und 5 Sterne!“), aber meistens ist so etwas gar nicht mehr nötig, dafür sorgt u.a. das tolle Wahlgesetz, das es dem Bürger praktisch unmöglich macht, eine einzelne Partei oder gar seine Abgeordneten selbst zu wählen.
B. werden also Beziehungen zur Mafia nachgesagt? Von der merkt man doch gar nichts mehr! Gibt es die denn überhaupt noch?
Und das mit Ruby sehen nun wirklich fast alle hier (mit denen ich gesprochen habe) als reine Privatsache, und die richterliche Verfolgung daher als Schikane. Und stellt man klar, dass es immerhin um Förderung der Prostitution Minderjähriger und Amtsmissbrauch geht, bleibt bei vielen doch so ein verklärter Blick, der vielleicht bedeutet, so schlecht könne es doch nicht sein, wenn man mit 76- che uomo!! – noch eine 17jährige „beglücken“ kann.
Und so ist B. wohl wirklich einer, der geheime Sehnsüchte ebenso (geschickt) personifiziert wie er „den kleinen Strolch“ in uns allen anspricht, und vor diesem Hintergrund ist es beinahe tröstlich, dass nur ein Drittel der Wahlberechtigten tapfer zu ihm steht – doch wer weiß: in Italien kann sich diese Zahl schnell ändern – nach unten wie nach oben.
Liebe Frau oder lieber Herr Schnittke,
vielen herzlichen Dank für Ihr Kommentar. Man spührt, dass Sie wirklich „aus Sorge um Italien“ schreiben.
Sie beschreiben sehr gut das, was man im italienischen Alltag erlebt und was in Deutschland nicht so leicht begriffen wird.
Ihre Zeilen geben mir auch die Gelegenheit, etwas zu präzisieren. Sicher ist eine Art „Ideologie des Schlauseins“ im Land verbreitet. Doch es kann nicht geschwiegen werden, dass viele italienische Bürgern die „Füchse“ und derer Art von Moral gar nicht mehr bewundern. Es ist längstens keine Minderheit mehr: etwa drei Viertel der Bürger, die im Februar gewählt haben, um nur eine grobe Zahl zu erwähnen. Es soll dabei nicht vergessen werden, dass Berlusconis Partei über sechs Millionen Stimmen verloren hat.
Es bleibt noch etwa ein Viertel der Wähler, die „Silvio“ und seine Ideen weiter zu unterstützten scheint. Die Absicht meines Beitrages war über diese bestimmte Gruppe zu schreiben und die Frage zu stellen, ob es einige Monate nach der Wahlen in Italien noch so viele Bürger gibt, die dazu gehören.
Mit freundlichen Grüßen,
Flavio Venturelli