Ilva – bittere Jahresbilanz
Derzeit beherrscht – mal wieder – ein einziges Thema die Medien, die öffentliche Wahrnehmung und die politische Auseinandersetzung: die Angelegenheiten Berlusconis und ihre mögliche Auswirkungen auf die italienische Politik. Wird Napolitano ihn begnadigen? Wird er sein Senatsmandat verlieren? Zieht er der Letta-Regierung den Stecker raus? Wenn ja, was dann? Alle starren gebannt auf diese einzige Person. Die einen, voll des Mitleids mit dem angeblich Verfolgten, wollen für ihn die Gesetze außer Kraft setzen. Die anderen wehren sich gegen seine Erpressung, sind empört über so viel Dreistigkeit und lassen sich doch von seinem Treiben (weitgehend) die Agenda diktieren.
Dabei treten andere Themen in den Hintergrund, die das Leben der Bürger – manchmal auf dramatische Weise – unmittelbar betreffen: ihren Arbeitsplatz, ihre Gesundheit, sogar ihr Recht auf Leben. Die Arbeiter der Ilva-Stahlwerke in Taranto und ihre Familien zum Beispiel, über die wir bereits berichteten. Zur Erinnerung: Vor etwa einem Jahr hatte die Staatsanwaltschaft von Taranto Vorbeugehaft für Emilio Riva, den Patron der Ilva-Stahlwerke, und weitere Führungskräfte angeordnet. Anklagepunkte: Verursachung einer Umweltkatastrophe und mehrfacher Totschlag. Ein Jahr danach, Ende Juli, kamen Emilio Riva, sein Sohn Nicola und der ehemalige Werkleiter Luigi Capogrosso wieder frei. Die gesetzlichen Fristen für die Vorbeugehaft sind abgelaufen.
Das Stahlwerk vergiftet weiterUnterdessen zerstört die Ilva-Produktion weiterhin die Umwelt und die Gesundheit der Bürger Tarantos. Die von der Staatsanwaltschaft zweimal angeordnete Schließung der sechs am stärksten gesundheitsgefährdenden Abteilungen hatte erst die Monti-und dann die Letta-Regierung mit der Begründung aufgehoben, die Folgen für die Arbeitsplätze und die gesamte nationale Wirtschaft seien zu gravierend. Per Eildekret wurde die Wiederaufnahme der Produktion erwirkt, verbunden zwar mit einer Reihe von Sanierungs- und Umweltauflagen, die jedoch nur völlig unzureichend umgesetzt wurden. So dürftig, dass die für ihre „harte Linie“ bekannte Untersuchungsrichterin Patrizia Todisco im Mai erneut zu drastischen Mitteln griff: Sie verfügte die Konfiszierung von 8,1 Milliarden Euro aus dem Vermögen der „Holding Riva Fire“. Der Betrag entspricht in etwa der Summe, die die Unternehmensführung durch Umgehung der gesetzlichen Umweltauflagen im Zeitraum 1995-2013 „eingespart“ hat.
Daraufhin trat der gesamte Ilva-Aufsichtsrat zurück und schloss „aus Protest“ – um Regierung und Justiz unter Druck zu setzen – das Werk in Taranto. Die Letta-Regierung reagierte mit einem neuen Dekret und setzte das Stahlunternehmen vorläufig unter Zwangsverwaltung. Zum Sonderkommissar ernannte die Regierung allerdings ausgerechnet den Vorsitzenden des Ilva-Aufsichtsrates (und früheren „Sparkommissar“ der Monti-Regierung) Enrico Bondi. Angesichts der Vorgeschichte eine – milde ausgedrückt – verblüffende Entscheidung.
„Tabak und Alkohol sind Schuld“
Und Sonderkommissar Bondi hatte die glänzende Idee, mit dem Verfassen des Berichts für die Region nur „Experten“ zu beauftragen, die aus dem Umfeld der Ilva-Unternehmensführung kommen. So durfte Regionspräsident Vendola erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass die Ursachen für die hohen Krebsraten in Taranto und Umgebung mitnichten an den Zuständen im Ilva-Werk, sondern am übermäßigen Tabak- und Alkoholkonsum der tarentinischen Bevölkerung lägen. Die also selbst schuld sei. Erklärungsbedürftig bleibt zwar, wieso ausgerechnet bei Kindern die Krankheits- und Sterblichkeitsrate so hoch ist, besonders in den werksnahen Stadtteilen. Offenbar meinen Bondis „Experten“, dass in diesen Stadtteilen auch die Säuglinge und Kleinkinder zu häufig zu Flasche und Zigaretten greifen. Patron Riva jedenfalls hatte nach seiner Freilassung gleich zwei Gründe, um die Champagnerkorken knallen zu lassen.
Ein Jahr danach wird also in Taranto weiter produziert und gestorben. Doch nicht mal letzteres ist problemlos zu bewerkstelligen: Tarantos Bürgermeister Stefano Ippazio hat nämlich – nachdem er die Spielplätze im Stadtteil Tamburi wegen akuter Gesundheitsgefährdung der Kinder schließen musste – jetzt auch Bestattungen auf dem dortigen Friedhof verboten. Die dortige Erde ist so vergiftet, dass es nur den Toten, aber weder Bestattern noch Trauergästen zugemutet werden kann, mit ihr in Kontakt zu kommen.
In Berlin gibt es am 20. und 21.9. Info-Veranstaltungen mit Aktivisten und ArbeiterInnen aus Taranto. Sie werden über die Situation im Stahlwek und der Region berichten, dazu werden Filme gezeigt, und die tarantinische Band SCIAMANO tritt auf.
In Hennigsdorf (bei Berlin), wo die Familie Riva ebenfalls ein Stahlwerk betreibt, findet die Veranstaltung am Sonntag Nachmittag im Freien statt.
Sa, 20.9., 19h, Berlin: Regenbogenfabrik (Lausitzer Str.22)
So, 21.9., 16h, Hennigsdorf: Postplatz (Bhf. Hennigsdorf)
Liebe Milena,
vielen Dank für den Hinweis! Wir werden weiter versuchen, unsere Leserinnen und Leser über Ilva zu informieren, u.a. demnächst über die Schließung der Riva-Stahlwerke außerhalb von Taranto (als „Racheakt“ der Fam. Riva gegen die Konfiszierungsmaßnahmen der Richter in Taranto).
Hätten Sie vielleicht die Möglichkeit bzw. Lust, uns einen kleinen Beitrag (wenn es geht, mit Foto) der Aktionen in Berlin bzw. Hennigsdorf zu schicken? Oder uns zumindest ein paar Infos zur Verfügung zu stellen, die wir in unserem nächsten Beitrag über Ilva/Riva verarbeiten können? Das wäre super!
Herzlichen Gruß Marcella Heine