Im Wahn
Gestern war hier einer der Herbsttage, die man unendlich genießen kann. Wir waren am Meer: Die Sonne schien, das Mittelmeer, dunkelblau und grün, rauschte im Westwind, das Wasser ist frisch, aber nicht kalt, man kann noch baden. Die Strände leer, kilometerweit. Aber über allem eine Depression, die nicht nur der Melancholie des endenden Sommers entspringt.
Ein weiteres UrteilBerlusconi ohne Ende. Der 18. September bringt zwei Nachrichten. Die erste: Das Kassationsgericht hat ein weiteres Urteil abgesegnet. B. muss seinem alten Erzrivalen De Benedetti, dem er zu Beginn der 90er Jahre betrügerisch (durch Richterbestechung) den Mondadori-Verlag abjagte, eine halbe Milliarde Euro zahlen. Bevor man über die Summe ins Staunen gerät, sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass es hier um die zivilrechtliche Regulierung eines Deliktes geht, das selbst ungesühnt bleibt: Dass es Richterbestechung war, ist gerichtsfest (und wird in der jetzigen Urteilsbegründung noch einmal bestätigt). Aber es ist verjährt. Wofür B. durch eines der vielen Ad-Personam-Gesetze sorgte, derentwegen er, wie viele glauben, überhaupt nur in die Politik ging. Zum Glück konnte er das italienische Rechtssystem nicht soweit verbiegen, dass es auch zivilrechtlich den räuberischen Betrug absegnete, und dafür muss er nun zahlen. Worauf B., seine Tochter Marina (die B. zur Chefin des Mondadori-Verlags machte) und die ihm hörigen Medien gestern sofort alle „RAUB!“ zeterten. Nichts anderes war von ihnen zu erwarten.
Eine neue Videobotschaft
Dann am frühen Abend die schon lange angekündigte Videobotschaft, mit der B. auf seine definitive Verurteilung im Mediaset-Prozess reagierte. Eigentlich nichts Neues, wenn man davon absieht, was die „Botschaft“ nicht sagte: dass B. nun sofort der Regierung Letta „den Stecker rauszieht“. Dies hatte B. nach dem Urteil angedroht, um alle zu erpressen: den Staatspräsidenten, der ihn sofort zu begnadigen habe, und die PD, die mit dafür sorgen müsse, dass das Severino-Gesetz (7 Jahre kein politisches Amt für Abgeordnete, die rechtskräftig zu mehr als 2 Jahren Gefängnis verurteilt wurden) nicht auf ihn angewendet wird. Stattdessen nur die Ankündigung, „Forza Italia“ zum Leben zu erwecken, mit der er wieder die nächste Wahl gewinnen will, um „uns“ (die Italiener) – das wird jetzt das Mantra werden – „von der Unterdrückung durch die Justiz, den Fiskus und die Bürokratie zu befreien“.
B. sagt „UNS“, weil er will, dass man sein Schicksal mit dem Schicksal Italiens gleichsetzt. Und er nennt im gleichen Atemzug Justiz, Fiskus und Bürokratie, weil er weiß, dass der Kampf gegen die Justiz allein seine Anhänger nicht zusammenzuhalten wird. Obwohl er den Kampf gegen die Justiz zur Mutter aller Schlachten stilisiert, indem er behauptet, die Gerichte wollten allen Italienern gegen den Willen Gottes die Freiheit nehmen und stattdessen „auf juristischem Weg den Sozialismus einführen“. „Das Wesen des Menschen ist Freiheit, und als Gott den Menschen schuf, wollte er ihn frei“. Insbesondere B., meint B.
Auch dass er angesichts seiner Verurteilung das Volk kaum verhüllt zum Umsturz aufruft, ist nichts Neues: „Euch allen sage ich …: Reagiert, protestiert… Ihr habt nun die Pflicht, etwas Starkes und Großes gegen die Situation zu machen, in die sie uns gebracht haben“. B. geht bekanntlich über Leichen, über Recht und Verfassung. Nun soll es auch das Volk tun.
Aber etwas anderes fand ich an dieser neuen Videobotschaft faszinierend. Als er beteuerte, dass er „dieses Land immer noch liebt, trotz der Bitterkeit dieser Jahre…, trotz der Empörung über das Urteil“, und langsam mit Pathos hinzusetzte „DENN ICH WIEDERHOLE NOCH EINMAL: ICH HABE KEIN VERBRECHEN BEGANGEN, ICH HABE KEINERLEI SCHULD, ICH BIN UNSCHULDIG, ICH BIN ABSOLUT UNSCHULDIG“, brach ihm die Stimme, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. B. lügt ohne jede Hemmung. Glaubt er vielleicht trotzdem, was er sagt? Auch wenn es sich um Wahngebilde handelt, stünde er damit in der Geschichte nicht allein da. Dass er auch nicht den Hauch eines Zweifels an den eigenen Obsessionen zeigt, ist eine Teilerklärung für seinen Erfolg.
Das parlamentarische Verfahren geht weiter
Am späten Abend des 18. September noch ein Stück Realität. Die Senatskommission, die für die Zu- bzw. Aberkennung der Senatoren-Mandate zuständig ist, verhandelt über den Vorschlag ihres PdL-Sprechers, die Anwendung des Severino-Gesetzes (das die PdL mit beschlossen hatte) auf Berlusconi auszusetzen, bis geklärt sei, ob es verfassungsgemäß sei. Nur die PdL- und die Lega-Mitglieder sind dafür, die Mehrheit stimmt dagegen. Und während die PdL- und Lega-Mitglieder unter Protest die Kommission verlassen, beschließt die Mehrheit einen neuen Sprecher, der einen neuen Vorschlag verfassen muss, welcher die Auffassung der Mehrheit – Anwendung des Severino-Gesetzes auch auf B. – zum Ausdruck bringt. Jetzt gibt es für die Kommission erst einmal eine zehntätige Pause, dann kann sich B. mit seinen Rechtsanwälten vor der Kommission verteidigen, wie es das Reglement vorsieht. Etwa Mitte Oktober könnte es zur endgültigen Abstimmung im Senat kommen. Die Mühlen des Parlaments mahlen langsam, aber sie mahlen. Se Dio vuole, sagt der Italiener.