Die Krise ist da
Am 29. September wurde Berlusconi 77 Jahre alt. Wie Nero, der angeblich Rom zu seinem Vergnügen ansteckte, bescherte sich auch B. ein spektakuläres Geschenk. Samstagabend zwang er die PdL-Minister der Regierung Letta zum Rücktritt. Nun brennt ganz Italien. Herzlichen Glückwunsch und langes Leben, Silvio.
Als Vorwand diente eine Lüge: Die Regierung habe die Absicht, die Mehrwertsteuer zu erhöhen, das könne die PdL nicht mitmachen. Das Gegenteil ist wahr: Der Ministerrat wollte gerade nach Möglichkeiten suchen, eine solche Erhöhung zu vermeiden – aber B. entzog dem durch den Rücktritt der Minister die Grundlage. B. befindet sich bereits im Wahlkampf, und sein Rezept ist klar: Er ist der Heilige Georg, der gegen Lettas „Regierung der Steuern“ den Kampf aufnimmt. Dafür ist ihm jede Lüge recht.
Der Massenrücktritt der Abgeordneten
Das wahre Motiv: B. will die im Senat anstehende Abstimmung über den Verlust seines Senatorensitzes verhindern. Um jeden Preis. Den letzten Ausschlag gab offenbar ein Gerücht: Die Staatsanwaltschaft Neapels wolle ihn sofort nach seinem Mandatsverlust in Vorbeugehaft nehmen, wegen des dritten großen Vergehens, das (nach Mediaset und Ruby-Prozess) gegen ihn anhängig ist: den Kauf von Abgeordneten zu Zeiten der Prodi-Regierung. Bliebe B. vorerst Senator, wäre er – so die Hoffnung – erst einmal geschützt.
Zunächst versuchte B. ein letztes Erpressungsmanöver. Während Mittwoch die Kammern tagten, liefen in den Reihen der PdL-Fraktion geschäftige Abgeordnete mit vorgefertigten Erklärungen umher, die sie ihren Fraktionskollegen vorlegten, damit diese sie umständlich in aller Öffentlichkeit ausfüllten und unterschrieben. Sie kündigten damit ihren Massenrücktritt an, wenn die zuständige Senatskommission am 4. Oktober die Anwendbarkeit des „Severino-Gesetzes“ (Verlust des politischen Mandats für Abgeordnete, die rechtskräftig zu mehr als zwei Jahren Gefängnis verurteilt sind) auf B. beschließen sollte.Damit sollte die Senatskommission unter eine Art Guillotine mit automatischem Auslöser gelegt werden: Wenn die Kommission B.s Amtsenthebung befürwortet, treten alle PdL-Parlamentarier zurück. Beide Kammern wären dann – so die Hoffnung – handlungsunfähig, der Senat, der als letzte Instanz der Amtenthebung von B. zustimmen müsste, könnte nicht mehr zusammentreten. Käme es zu schnellen Neuwahlen, könnte die Welt wieder anders aussehen: Die Anti-Steuern-Demagogie und die Mehrheitsprämie des „Porcellum“ würden B. (so die Hoffnung) die absolute Mehrheit bescheren, und kein Senat, keine Abgeordnetenkammer würden ihm noch seinen Schutzschild, das politische Mandat, aberkennen. Das war der Plan, dafür sollten die PdL-Fraktionen beider Kammern geopfert werden.
Die Eskalation: der Rücktritt der Minister
Aber zur Erpressung gehören zwei, und Letta war so unkooperativ, sich ihr nicht zu beugen. Er war stinkesauer aus New York zurückgekommen, denn als die PdL in beiden Kammern ihre Unterschriften sammelte, warb er vor der UN und anderen Gremien für den Wirtschaftsstandort Italien. Der Massenrücktritt einer Regierungspartei ist nicht gerade das, was man sich im Ausland unter politischer Stabilität vorstellt. Nun stellte auch Letta der PdL ein Ultimatum: Er kündigte an, noch vor der Abstimmung in der Kommission in beiden Kammern das Programm vorzutragen, das er noch bis 2015 mit seiner Regierung bewältigen will, und dann die Vertrauensfrage zu stellen.
Damit war B.s schöner erpresserischer Plan, das Überleben der Regierung an die Abstimmung in der Senatskommission zu binden, erst einmal geplatzt, und der Schwarze Peter, den er eigentlich Letta zuschieben wollte, lag wieder bei ihm. Aber das Damoklesschwert der Vorbeugehaft trieb ihn zum Vabanquespiel: Regierungskrise noch vor der Abstimmung in der Kommission, Rücktrittsorder an die PdL-Minister. Sie gehorchen widerstrebend, aber sie gehorchen. Trotzdem zeigen sich in der PdL Risse. Voraussichtlich Mittwoch, bei der Vertrauensabstimmung, wird sich zeigen, wie viele Überläufer es gibt.
Das Experiment ist gescheitert
Es gibt Experimente, bei denen man erst hinterher weiß, dass sie nicht gelingen konnten. Napolitano machte ein solches Experiment. Die Wahl im Frühjahr hinterließ ein in Wahrheit unregierbares Italien: drei etwa gleich große, miteinander unvereinbare Lager. Nachdem Napolitano anderthalb quälende Monate lang dem Versuch der PD zugeschaut hatte, sich mit den Grillini zu einigen, versuchte er, kraft seiner Autorität (und einer zweiten Amtszeit) PD und PdL ins gemeinsame Regierungsbett zu zwingen. Das funktionierte 5 Monate lang, eher schlecht als recht. Dann wurde das noch vorhandene Stückchen Demokratie Italiens zur Zeitbombe, die alles zum Einsturz brachte: eine unabhängige Justiz, die ihre Arbeit macht und vor der alle Straftäter gleich sind, auch wenn sie von 8 Millionen Italienern gewählte Milliardäre sind. Nun verlangten beide Seiten einander das Unmögliche ab: die PD von der PdL, sie solle das Schicksal ihres Leaders vom Schicksal der Regierung trennen (aber die PdL ist nichts anderes als dieser Leader), und die PdL von der PD, sie solle dafür sorgen, dass B. „gerettet“ wird (für die PD hätte es politischen Selbstmord bedeutet, und nebenbei auch noch den italienischen Rechtsstaat zerstört).
Wie geht es weiter? Berlusconi und Grillo fordern Neuwahlen, obwohl jeder weiß, dass sie kein Ausweg sind, sondern die gegenwärtige Situation nochmals bestätigen würden. Die drei Lager, in die Italien derzeit zerrissen ist, werden bleiben, höchstens werden die beiden populistischen Lager noch weiter anwachsen. Napolitano versucht, vorerst Neuwahlen zu verhindern. Bei der Vertrauensabstimmung am Mittwoch setzt Letta auf Dissidenten aus der PdL und der 5-Sterne-Bewegung. Wenn er die Abstimmung überlebt, kann er noch ein Weilchen (wie lange?) weiter regieren, im Treibsand. Eines ist klar: Vor Neuwahlen müsste noch das Wahlgesetz geändert werden, auch gegen den Willen von Grillo und Berlusconi.