Berlusconis Halluzination
Berlusconi ist ein großer Mann. Er bescheißt nicht nur den italienischen Staat und seine steuerzahlenden Landsleute um Hunderte von Millionen, sondern auch die eigenen Aktionäre. Ich verkehre nicht in diesen Kreisen, aber vermute, dass sich das nicht einmal unter Leuten gehört, die ihr Geld in Aktien anlegen. Der große B. tut es.
Ich habe mir ein wenig genauer die Begründung angeschaut, welches das oberste italienische Kassationsgericht für das (definitive) Urteil im Mediaset-Verfahren nachlieferte. Es zeigt, dass B. nicht nur ein kleiner Gesetzesübertreter ist. Für B. ist das ein „Wahnsinnsurteil“ („sentenza allucinante“). Recht hat er: Einem Lügner und Betrüger wie ihm begegnet die Wahrheit nur als Halluzination.
Das „System“
Das „System“ Berlusconi, an dem er seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre eisern festhielt, hat den schlichten Grundgedanken jedes kleinen Ladenbesitzers, der Steuern hinterzieht: falsche Zahlen! Bei B. funktionierte es so: Sein Medienkonzern, der jetzt Mediaset heißt, kaufte in den USA Film- und Fernsehrechte. Die Kassation: „Mediaset handelte über Vertrauensleute seine Einkäufe direkt mit den US-Partnern aus. Kommerzielle und steuerliche Korrektheit hätte erfordert, diese Einkäufe entsprechend nachzuweisen. Aber die Rechnungen, die der Konzern dem Fiskus vorlegte, stammten von einer anderen Gesellschaft, die nur zu diesem Zweck im Ausland geschaffen worden war. Die hier ausgewiesenen Kosten hatten mit den ursprünglichen Preisen nichts mehr zu tun, sondern sich nach Durchlauf durch verschiedene Zwischenstationen ohne kommerziellen Sinn enorm erhöht.“ Die Richter rechneten nach, um wie viel die Preise so im Lauf der Jahre aufgepumpt wurden: um 368 Mio. Dollar.
Für B. machte dieses „System“ der Kostenblähung dreifachen Sinn.
Erstens konnte B. sein Unternehmen dem Fiskus stets als von Kosten erdrückt präsentieren und somit massiv Steuern „sparen“. Allein 2002 und 2003 waren es 7,3 Mio. €. Nur um sie ging es im Mediaset-Prozess. Denn die Steuerhinterziehung der vorhergehenden Jahre ist verjährt, wozu die Berlusconi-Regierung mit entsprechender Gesetzgebung tatkräftig beitrug. Unhöflicherweise rechneten die Gerichte trotzdem nach: 2001 hinterzog B. 6,6 Mio. € (verjährt), in den Jahren zuvor, in denen noch mit Lira gerechnet wurde, 120 Mrd. Lire (ca. 60 Mio. €, verjährt).
Zweitens konnte B. mit dem durch fiktive Kostenblähungen „erwirtschafteten“ Geld schwarze Kassen bilden, die in keiner Bilanz auftauchten und die er off-shore in seinen Briefkasten-Firmen versteckte.
Drittens – und das ist der Clou – befanden sich diese schwarzen Kassen nicht etwa im (illegalen) Besitz des Mediaset-Konzerns, sondern in B.s persönlichem Besitz. Bis auf ein paar Eingeweihte, welche an den Manipulationen beteiligt und im Prozess Mitangeklagte waren, wurde das Konzern-Management darüber im Unklaren gelassen. Ganz zu schweigen von den Aktionären (seit 1994 ist B.s Medienkonzern AG), die jährlich über gefälschte Bilanzen abstimmten, ohne etwas von diesem permanenten Geldabfluss in Richtung B.s Privatkonten zu ahnen.
„Wusste es“ B. oder konnte er nur „nicht nicht wissen“?
So die gerichtliche Rekonstruktion des „Systems“ der Steuerhinterziehung und des illegalen Geldtransfers in B.s eigene Tasche. Nun war noch zu widerlegen, dass B. von alledem „nichts gewusst“ hatte. Einerseits hatte er 1994 – als er in die Politik ging – seine offiziellen Leitungspositionen im Medienkonzern abgegeben. Andererseits war alles, was er zu seinem persönlichen Vorteil bis 2001 an Steuern hinterzogen und auf die Seite geschafft hatte, sowieso verjährt. Hat er das, was später kam und noch nicht verjährt ist, überhaupt noch persönlich zu verantworten? Obwohl das „System“ so funktionierte, dass es für ihn persönlich weiterhin jährlich um die 5 Mio. abwarf?
Letztlich geht es um einen juristischen Unterschied, der so fein ist, dass er sich sogar der Logik entzieht: Können die Gerichte aus den Beweisen nur erschließen, dass er nach seiner Übergabe der Konzernführung von alledem „nicht nicht wissen konnte“, oder ist beweisbar, „dass er es wusste“? Im ersten Fall würden sie B. aufgrund eines „Theorems“ verurteilen, im zweiten Fall aufgrund einer bewiesenen Tatsache. Die Gerichte kamen zu dem Ergebnis, dass B. „wusste“, auch nachdem er die formale Leitung von Mediaset abgegeben hatte. Alle Vertrauenspersonen, die B. mit der Praktizierung seines „Systems“ beauftragt hatte, blieben nach 1994 im Amt. So Carlo Bernascini, bei Mediaset Abteilungschef für Auslandseinkäufe, der auch im „System“ eine Schlüsselposition einnahm. Die Gerichte fanden Zeugen dafür, dass sich B., als er längst Ministerpräsident war, weiterhin ständig von Bernascini über seine Aktivitäten berichten ließ – am Vorstand von Mediaset vorbei. Die Kassation: „Der Prozess hat die klare unmittelbare Verantwortlichkeit Berlusconis für Projektierung, Realisierung und Entwicklung des Systems bewiesen, das die Bildung der von Fininvest getrennten Kassen ermöglichte, und damit eines Systems von Gesellschaften, die von ihm abhängen“.
Wie reagiert B. auf diese Urteilsbegründung? Er konzentriert sich auf die Parlamentarier, die das Verbot seiner politischen Betätigung eigentlich von Amts wegen nur noch bestätigen können: „Wenn jemand meint, mit einem parlamentarischen Votum den Leader der größten Partei Italiens, also mich, eliminieren zu können, auf der Grundlage eines derartigen Wahnsinnurteils, wäre das für unsere Demokratie eine tiefe und unakzeptable Wunde. Die Italiener werden das nicht hinnehmen“. Will sagen: Wenn Ihr das Gerichtsurteil durchwinkt, stürze ich das Land in die Krise. Das ist B. in seiner ganzen Schönheit: Steuer- und Aktionärsbetrüger, und eben auch Erpresser. Italiens größte Wunde ist er.
In einem Punkt hat er Recht: Jeder dritte Italiener wählte ihn, obwohl er zum Zeitpunkt der Wahl schon „nicht mehr nicht wissen konnte“, wen er da wählt. Seit der Urteilsbegründung „weiß“ er es definitiv. Aber ich zweifle, ob das einen Unterschied macht. Auch gegen Wissen kann man sich panzern. Denn wie seine Anhänger sagen: „Wir lieben ihn eben“.