Europas Schande

Die nächste Tragödie – bisher die größte. Wahrscheinlich sind in der Nacht zwischen dem 2. und 3. Oktober vor Lampedusa mehr als 300 Menschen ertrunken. Über 100 Leichen wurden bereits geborgen, unter ihnen Säuglinge, Kleinkinder und schwangere Frauen. Mehr als 200 werden noch vermisst, ihre Leichen sind noch im Meer. Nach Aussagen der ca. 150 Überlebenden drängten sich mehr als 500 Menschen aus Eritrea, Somalia und Syrien – Männer, Frauen und Kinder – in dem Boot, das gestern in Flammen unterging, nachdem es zunächst durch einen technischen Defekt manövrierunfähig geworden war. Die mit dem Boot im Mittelmeer treibenden Flüchtlinge hatten versucht, durch das Anzünden einer Wolldecke Fischerboote auf sich aufmerksam zu machen. Da aber bereits Diesel ausgeflossen war, verbreiteten sich die Flammen rasend schnell. In Panik versuchten die Menschen, in eine Bootsecke zu flüchten, die noch nicht in Flammen stand. Das Boot kenterte, Hunderte stürzten ins Wasser. Das Boot versank. Als sich einige Fischerboote näherten und versuchten, so viele wie möglich in ihre Boote zu ziehen, war es für die meisten bereits zu spät. Sie waren bereits tot oder so entkräftet, dass sie die rettenden Boote nicht mehr erreichen konnten. „Sie schrieen nicht mal um Hilfe, sie versuchten nicht, gegen die Fluten anzukämpfen“, berichtet ein Fischer. „Sie gingen still und reglos runter, die Augen offen auf uns gerichtet, die Arme hochgestreckt wie Statuen – und verschwanden“.

LampedusaItalien trauert

Lampedusa und Italien trauern. Ministerpräsident Letta ordnete für den 4. Oktober einen nationalen Tag der Trauer an. In Lampedusa blieben die Geschäfte geschlossen. Die Bürger der Insel hissten schwarze Fahnen mit der Aufschrift „Vergogna“ (Schande). Bürgermeisterin Nicolini forderte die Regierung auf: „Kommt her und zählt mit uns die Toten!“. Der Innenminister und stellvertretende Ministerpräsident Alfano (PdL) kam und rief Europa auf, endlich Mitverantwortung für die unvorstellbaren Tragödien, die sich seit Jahren auf dem Mittelmeer wiederholen, zu übernehmen. Zu Recht. Denn die Flüchtlingstragödien vor Lampedusa – aber auch vor Malta und vor der spanischen Küste – sind Europas Schande.

Und wo bleibt Europa?

Und sie bleiben es, auch wenn die zuständige EU-Kommissarin Malmström erklärt, Europa werde gegen die Schlepper noch konsequenter vorgehen und Italien habe von der EU bereits über 300 Millionen Euro bekommen, um die Ausstattung der grenzüberwachenden Behörde Frontex zu verbessern. Damit soll die Festung Europa noch besser verteidigt, soll die Abschottung noch effektiver werden. Es reicht auch nicht aus, die Herkunftsländer der Flüchtlinge und deren Nachbarländer, die – im Gegensatz zu Europa – Millionen von Flüchtlingen aufnehmen, noch stärker finanziell zu unterstützen. Es geht darum, endlich den absurden Grundsatz aufzugeben, dass für die Aufnahme der Flüchtlinge die Länder zuständig sind, in denen sie zunächst landen (also die Mittelmeerländer). Und es geht vor allem darum – wie von den Flüchtlingsorganisationen und jetzt auch von EU-Parlamentpräsident Martin Schulz gefordert -, in allen europäischen Ländern „humanitäre Korridore“ zu schaffen, die den vor Krieg, Hunger, Folter und Verfolgung fliehenden Menschen die legale Möglichkeit bieten, ihr Land zu verlassen und in Europa Zuflucht zu finden.

Italien hat den 4. Oktober zum Trauertag erklärt, für die verstorbenen Flüchtlinge gibt es ein Staatsbegräbnis. Aber es geht nicht nur um eine italienische, sondern um eine europäische Tragödie. Wenn die EU am kommenden Dienstag aufgrund des Massakers vor Lampedusa mal wieder über die Flüchtlingsfrage diskutiert, wird sich da endlich etwas am Prinzip „Festung Europas“ ändern? Ich fürchte, es wird nicht einmal zur Trauerbeflaggung in den übrigen europäischen Ländern reichen. Und auch die Teilnahme am Massenbegräbnis in Italien werden sich die europäischen Staatschefs sparen.

Nicht nur sie, sondern wir alle tragen für die vergangenen und die künftigen Tragödien, die sich unweigerlich noch vor den südeuropäischen Küsten abspielen werden, Verantwortung.

Letzte Meldung der Redaktion:


Am Freitagabend hat die Kommission, die für die Prüfung der Senatorenmandate zuständig ist, dem Senat durch Mehrheitsentscheidung empfohlen, seinem Mitglied Berlusconi das Mandat zu entziehen. Auf Grundlage des „Severino“-Gesetzes, das Abgeordneten, die rechtskräftig zu mehr als 2 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, ein Mandat in einer der der beiden Kammern verbietet. Die Entscheidung fiel mit 15 zu 8 Stimmen (Gegenstimmen von PdL und Lega). Die letzte Entscheidung liegt nun beim Gesamtsenat, zu der es vermutlich in den nächsten Wochen kommen wird. B. versuchte bisher alles, um eine solche Entscheidung zu verhindern, zuletzt sogar durch Anzetteln einer Regierungskrise. B. qualifizierte das Urteil als „Angriff auf den Rechtsstaat, das Herz der Demokratie, sie wollen mich eliminieren“. Für alle Fälle haben seine Anwälte bereits beim Europäischen Gerichtshof eine Klage eingereicht: Das „Severino“-Gesetz dürfe nicht für Vergehen gelten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes (Dezember 2012) begangen wurden (bisher wurde es schon auf eine ganze Reihe solcher Fälle angewandt, ohne dass die PdL Einspruch erhob). Zur endgültigen Entscheidung im Senat siehe auch in diesem Blog „Der Tanz um die geheime Abstimmung“.