Grillo und die Gewissensfreiheit
Man sollte Politikern dankbar sein, wenn sie zu wichtigen Verfassungsgrundsätzen, die oft langweilig wie alte Hüte scheinen, neues Anschauungsmaterial liefern. So kann man Berlusconi sicherlich das Verdienst zurechnen, unser Wissen zum Thema Gewaltenteilung zu bereichern: Er zeigt, wohin es führen würde, wenn sich die Justiz der in Wahlen äußernden Volkssouveränität unterordnen würde. Der Caudillo stünde dann über dem Gesetz. Oder besser: Er wäre das Gesetz.
Grillos Angriff gegen Art. 67 der VerfassungGrillos 5-Sterne-Bewegung (M5S) liefert Anschauungsmaterial zu einem anderen Grundsatz der Verfassung, der Gewissensfreiheit von Abgeordneten. Nach Art. 38 des deutschen Grundgesetzes sind die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Nach Art. 67 der italienischen Verfassung üben die Abgeordneten ihr Amt „ohne Bindung ihres Mandats“ aus. Was etwa auf das Gleiche hinausläuft
Grillos Haltung zum Verfassungsgrundsatz der Gewissensfreiheit hat sich in den letzten Jahren erstaunlich gewandelt. Während er ihn noch vor ein paar Jahren hochhielt, greift er ihn jetzt frontal an – wohl auch deshalb, weil er in ihm mittlerweile ein Hindernis für seinen Führungsanspruch innerhalb seiner Bewegung sieht.
Aber schauen wir uns die Gründe an, die er dafür selbst in seinem Blog vorbringt: Art. 67 erlaube „es jedem Gewählten, zu tun, was ihm beliebt, ohne sich vor irgendjemandem verantworten zu müssen“. So werde das Parlament von „Wendehälsen, Opportunisten, Korrupten und Parteiwechslern“ bevölkert, es sei eine Veranstaltung zur „Umgehung des Wählers“. Die in der Verfassung verankerte Gewissensfreiheit liefere dem Parlamentarier schon im vorhinein als Vorwand zu jeder „Lüge gegenüber dem Wähler, seinem Arbeitgeber, ohne dass es für ihn irgendwelche Konsequenzen hätte, er also strafrechtlich verfolgt oder mit Fußtritten aus seiner Kammer gejagt werden könnte“.
Der Missbrauch
In der Tat: Beispiele dafür, dass die Gewissensfreiheit nur das Alibi schlichter Käuflichkeit ist, gibt es zur Genüge. Gerade auch in Italien, wo der Fall De Gregorio, bei dem eine Regierung durch Abgeordnetenkauf gestürzt wurde, die Gemüter erhitzt. Verbindet sich die Käuflichkeit mit der Intransparenz der (geheimen) Abstimmung, erscheint die Gewissensfreiheit wie die Lizenz zur Korruption.
Trotzdem haben fast alle Verfassungen demokratischer Länder diesen Grundsatz kodifiziert. Wussten die Verfassungsväter und –mütter nicht, dass er missbraucht werden kann? Warum baut die Verfassung hier noch ein zusätzliches Gelenk ein, eines, das sich „Gewissen“ nennt? Ohne diese Instanz der Ungewissheit könnte der Mechanismus der Entscheidungsfindung eigentlich ganz einfach sein: Das Volk wählt die Abgeordneten mit dem Auftrag ins Parlament, ihr dargelegtes Programm umzusetzen, nicht mehr, nicht weniger.
Die Geschichte von Grillos M5S liefert Anschauungsmaterial zumindest für eine Teilantwort. In der Justizkommission des Senats taten zwei seiner Senatoren genau das, was Grillo aus der Welt schaffen will: Nach dem Massaker vor Lampedusa folgten sie ihrem Gewissen und beantragten, den Straftatbestand „Illegale Einreise“ zu streichen. Bei Grillo und Casaleggio löste dies sofort scharfe Ablehnung aus, wobei sie sich wie alle Rechtspopulisten auf „Volkes Stimme“ beriefen. Aber sie setzten dabei auch die Polemik gegen die Gewissensentscheidung fort: Die beiden Senatoren seien dazu nicht befugt, denn ihre Position sei in der M5S nicht diskutiert worden und gehöre auch nicht zu dem Programm, mit dem sie gewählt wurden. „Sich an die Stelle der öffentlichen Meinung und des Volkswillens setzen zu wollen ist typisch für Parteien, die die Bürger ‚erziehen’ wollen, nicht für uns“.
Notare des Volkswillens
Grillo und Casaleggio versuchen ein Abgeordnetenbild durchzusetzen, das dem Grundsatz der Gewissensfreiheit diametral widerspricht. Die Abgeordneten sollen Notare des Volkswillens sein, nicht Menschen, die unter anderem auch ein Gewissen haben. Hier ist es also nicht der mögliche Missbrauch des Gewissens, sondern seine Freiheit selbst, die abgelehnt wird. Und damit auch die Möglichkeit, dass Abgeordnete – wie im vorliegenden Fall – die Gunst der Stunde nutzen, um eine Entscheidung durchzusetzen, die der Volksmeinung nicht hinterher läuft, sondern ihr vielleicht auch einmal vorauseilt. Die Abschaffung der Todesstrafe hätte es so nie geben können. Auch sie wäre unter das Verdikt gefallen: „typisch für Parteien, die die Bürger erziehen wollen“.
Eingeschworene Grillo-Anhänger werden jetzt sagen, dass es gut für Italien sei, wenn endlich einmal eine Partei nach der Wahl hält, was sie vor der Wahl versprach. Bis zu diesem Punkt kann ich ihnen sogar zustimmen. Richtig ist auch, dass die von der Verfassung erlaubte Berufung auf die „Gewissensfreiheit“ riskant ist. Aber ich bin dagegen, sie deshalb als Verfassungsgrundsatz abzuschaffen. In der Freiheit steckt eben auch die Chance zur Innovation. Beispielsweise die Abschaffung des Bossi-Fini-Gesetzes.