Zweifelhafte Freunde
Die Justizministerin der Letta-Regierung, Annamaria Cancellieri, musste in der vergangenen Woche dem Parlament Rede und Antwort stehen, denn Grillos 5-Sterne-Bewegung hatte gegen sie einen Misstrauensantrag gestellt.
Der Ministerin wurde vorgeworfen, sich für die inhaftierte Unternehmerin Giulia Ligresti eingesetzt zu haben, die – gemeinsam mit ihrem Vater und ihren Geschwistern – Anfang Juli wegen Bilanzfälschung und Preismanipulation in ihrem Versicherungsunternehmen „Fonsai“ in Vorbeugehaft genommen worden war. Ende August wurde Giulia Ligresti, die an Anorexie erkrankt ist, aus gesundheitlichen Gründen aus der Haft entlassen und unter Hausarrest gestellt. Sie verweigerte die Nahrung und hatte stark an Gewicht verloren. Einen ersten Antrag auf Haftentlassung hatten die zuständigen Behörden abgelehnt. Erst nach einem zweiten ärztlichen Gutachten, das der Ligresti einen kritischen Gesundheitszustand attestierte, wurde der Hausarrest bewilligt.Problematisch ist nicht die Sache an sich, sondern der Umstand, dass es zwischen der ersten (negativen) und der zweiten (positiven) Entscheidung ein Telefonat von Ligrestis Onkel Antonino mit ihrer alten Freundin Cancellieri gab, in dem er um Unterstützung bat. Nach eigener Aussage hat die Justizministerin danach Kontakt zu zwei zuständigen Beamten aufgenommen, um diese für die Angelegenheit „zu sensibilisieren“ (O-Ton Cancellieri). Dann schickte sie Onkel Ligresti eine Sms: „Ich habe auf die Sache hingewiesen“.
Die Justizministerin beteuert, dass sie keinerlei Druck auf die Behörden ausgeübt, sondern lediglich aus humanitären Gründen auf eine besonders schwierige Situation hinwies, wie sie es auch schon in vielen anderen Fällen getan habe. Die Staatsanwaltschaft bekräftigt diese Version und schließt eine Einflussnahme aus. Die Entscheidung sei ausschließlich anhand eines ärztlichen Gutachtens getroffen worden.
„Das ist ungerecht!“
Doch so einfach ist die Sache nicht. Denn bereits kurz nach der Verhaftung des (mehrfach wegen Korruption und anderer Delikte verurteilten) Firmenpatriarchen Salvatore Ligresti hatte die Justizministerin dessen Lebensgefährtin angerufen, um ihr – laut Abhörprotokoll – mitzuteilen: „Also hör mal, das (die Verhaftung Ligrestis, MH) ist ungerecht, wirklich ungerecht! Der Arme! Jedenfalls musst Du wissen, Du kannst auf mich zählen … Ich besuche Dich, sobald ich kann, und wenn Ihr was braucht – egal was – zögere nicht …“. Dass eine Justizministerin Maßnahmen ihrer eigenen Behörde gegenüber Familienangehörigen eines (vorbestraften) Angeklagten als „wirklich ungerecht“ bezeichnet und sich bereit erklärt, zu dessen Gunst zu intervenieren („egal was“), ist nicht nur ungewöhnlich, sondern befremdlich.
Im Parlament begründete Cancellieri ihren Anruf mit der „langjährigen Freundschaft“, die sie mit der Familie Ligresti und insbesondere mit der Lebensgefährtin des Firmenchefs verbinde. Der Anruf habe rein emotionale, menschliche Beweggründe gehabt. Ein sehr fragwürdiges Argument. Ist man mit der Justizministerin befreundet und verfügt man über ihre Telefonnummer, darf man „auf sie zählen“. Andernfalls: Pech gehabt. Von einer Ministerin muss man aber erwarten dürfen, dass sie in der Lage ist, persönliche Freundschaften von ihrer institutionellen Rolle zu trennen. Und zwar besonders penibel, wenn sie die Funktion einer Justizministerin bekleidet und der „alte Freund“ vorbestraft und wegen gravierender Straftaten angeklagt ist. Ganz zu schweigen davon, dass eine Justizministerin mit einem so zweifelhaften Freundeskreis nicht gerade vertrauenserweckend ist.
„Vielleicht“ ein Fehler?
Und es ist auch wenig überzeugend, wenn die unter Druck geratene Ministerin vor dem Parlament erklärt, jener Anruf – verursacht durch eine „Aufwallung der Gefühle“ – sei „vielleicht“ ein Fehler gewesen. Das „Vielleicht“ zeigt, dass die Ministerin das Problem nicht wirklich erkennt. Was umso erstaunlicher ist, als Cancellieri kein unerfahrenes „Neuling“ ist: Sie hatte bereits in der Monti-Regierung ein Ministeramt inne und blickt auf eine lange Laufbahn als Verwaltungsbeamtin zurück, die ihr durchaus den Ruf einer kompetenten und gewissenhaften Staatsdienerin einbrachte.
Der Misstrauensantrag, über den das Parlament am kommenden Mittwoch entscheidet, wird wohl dank der Stimmen der regierungstragenden Parteien zurückgewiesen werden. Berlusconis PdL instrumentalisiert – wieder einmal – die Affäre, um etwas für B. herauszuschlagen, nach dem Motto: Wir sind bereit, die Ministerin zu unterstützen, aber sie muss ihrerseits die Richter und Staatsanwälte im Zaum halten, die unserem Leader an den Kragen wollen. Die andere regierungstragende Partei, die PD, will – nach Zögern – Cancellieri ebenfalls das Vertrauen aussprechen. Ganz nach dem Wunsch von Ministerpräsident Letta, der durch einen Rücktritt seiner Justizministerin die Regierung gefährdet sieht.
Cancellieri wird also höchstwahrscheinlich im Amt bleiben. Doch ihr Ansehen und ihre Glaubwürdigkeit sind beschädigt. Nicht zu Unrecht schrieb der Journalist Curzio Maltese daraufhin in der „Repubblica“: „Wir wollen unsere Josefa Idem wieder haben!“. Idem, ehemalige Ministerin (deutscher Herkunft) für Gleichstellung, Jugend und Sport war zurückgetreten, nachdem ihr Unregelmäßigkeiten beim Bezahlen der Immobiliensteuer nachgewiesen worden waren – es ging um etwa 3000 Euro. Sicher keine Lappalie – der Rücktritt war begründet. Doch – fragt sich Maltese – ist die Verfehlung der Justizministerin vielleicht von geringerem Gewicht?
Letzte Meldung
In den letzten Stunden wurde bekannt, dass es in den „entscheidenden“ Tagen vor der Umwandlung von Giulia Ligrestis Haftstrafe in Hausarrest nicht nur einen, sondern mehrere Anrufe zwischen der Justizministerin bzw. ihrem Ehemann und Giulias Onkel Antonino Ligresti gab. Damit gerät die Ministerin immer stärker unter Druck. Und innerhalb der PD mehren sich die Stimmen, die auf ihren Rücktritt drängen. Möglichst noch vor kommendem Mittwoch, an dem das Parlament über den Misstrauensantrag der 5-Sterne-Bewegung abstimmt.