Willkommenskultur

Nackt und frierend stehen sie auf dem Platz vor dem Erstaufnahmezentrum (CIE) von Lampedusa. Mitarbeiter des Zentrums bespritzen sie mit Pumpen, die ein Desinfektionsmittel gegen Krätze enthalten. Mehrere Flüchtlinge sind daran erkrankt, was angesichts der desaströsen und menschenunwürdigen Zustände im Zentrum kein Wunder ist. Einem von ihnen, ein Flüchtling aus Syrien, gelingt es, mit seinem Handy Aufnahmen des Geschehens zu machen und sie – mit Hilfe externer Unterstützer – an die Nachrichtenredaktion von RAI 2 zu übermitteln.

Rechtlos und ohne Stimme

Rechtlos und ohne Stimme

„Szenen wie in den Konzentrationslagern“

Schnell verbreitet sich das Video, auch durch das Netz, in Italien und anderen europäischen Ländern. Die engagierte Bürgermeisterin von Lampedusa, Giusi Nicolini, ist entsetzt: „Ich bin fassungslos. Die Bilder erinnern an ähnliche grausame Szenen in den Vernichtungslagern der Nazis. Lampedusa und ganz Italien sind mit Scham erfüllt“. Ministerpräsident Letta erklärt, er sei schockiert. EU-Kommissarin Malmström droht Italien mit der Streichung der finanziellen Zuschüsse für die Versorgung der Flüchtlinge.

Innenminister Alfano (Nuovo Centrodestra), zuständig für die Erstaufnahmeeinrichtungen und die Vergabe der Aufträge an die Betreiber, berichtete dem Parlament in einer Aktuellen Stunde, allerdings in einer Version, die bei vielen Abgeordneten Kopfschütteln und Empörung auslöste. Demnach sei die „gesundheitliche Maßnahme“ zunächst individuell in Holzkabinen vorgenommen worden, dann hätten einige Flüchtlinge, „verärgert über die langwierige Prozedur“, sich selbst auf dem Platz vor dem Zentrum nackt ausgezogen und seien dann von Mitarbeitern mit Pumpen behandelt worden. „Eine kolossale Lüge“, so der PD-Abgeordnete Khalid Chaouki, der sich inzwischen aus Protest auf unbestimmte Zeit im CIE von Lampedusa niedergelassen hat. Er fordert von der Regierung konkrete Maßnahmen zur Beendigung der unwürdigen Zustände sowie der Praxis, die Flüchtlinge statt – wie im Gesetz vorgeschrieben – nur wenige Tage monatelang im CIE festzuhalten.

Lampedusa ist kein Einzelfall

Betreiber des CIE ist die private Gesellschaft „Lampedusa Accoglienza“. Sie gehört zur größeren Unternehmensgruppe „Sisifo“, die auch andere Aufnahmezentren betreibt. Die Betreiber erhalten von der italienischen Regierung Zuschüsse (30-50 Euro pro Flüchtling und Tag) und sollen für Unterkunft, Verpflegung und Betreuung der Flüchtlinge sorgen.

Viele verlangen jetzt von der Regierung, sie solle der Sisifo-Gruppe den Auftrag entziehen. Einer von ihnen ist Erasmo Palazzotto, Abgeordneter von „Sinistra Ecologia e Libertà“, der in seinem Blog darauf hinweist, dass Lampedusa kein Einzelfall ist. Genauso so schlimm seien die Zustände z. B. im Cara-Zentrum von Mineo auf Sizilien. Auch dort schlafen die Flüchtlinge auf dem Boden oder auf Schaumgummimatratzen und nehmen dort ihre Mahlzeiten ein, weil es keine Mensa gibt. Die sog. „Sanitäranlagen“ sind in einem unbeschreiblichen Zustand, Dreck und Gestank unerträglich. Für Frauen und Kinder seien – theoretisch – getrennte Räume vorgesehen, was jedoch auf Grund chronischer Überbelegung oft nicht eingehalten wird. Promiskuität und unhygienische Zustände begünstigen die Ausbreitung ansteckender Krankheiten, wie bei den Krätzefällen in Lampedusa. Palazzotto wirft der Regierung vor, sich nicht genug um die Situation in den Lagern zu kümmern und die Arbeit der Betreibergesellschaften nicht wirksam zu kontrollieren.

Die Mitarbeiter der Betreibergesellschaft reagieren auf die Veröffentlichung des Lampedusa-Videos unterschiedlich: Einige machen sich Vorwürfe und meinen, sie hätten mehr auf die herrschenden Missstände aufmerksam machen müssen; andere wiederum weisen jegliche Verantwortung von sich und sind gar empört, dass ihre Arbeit – so sagen sie – für die Flüchtlinge diskreditiert wird. Die „kollektive Desinfizierungsaktion“ sei notwendig gewesen, um weitere Erkrankungen zu vermeiden, die unzureichenden Strukturen hätten eine individuelle Behandlung nicht ermöglicht (womit sie indirekt der ministeriellen Version der Fakten widersprechen).

Der Leiter des römischen Krankenhauses „Don Camillo-Forlanini“ und der Arzt der Notfallambulanz von Lampedusa, Pietro Bartolo, sehen die Sache anders: Das Bespritzen mit Desinfektionsmitteln durch Pumpen sei nicht nur menschenunwürdig, sondern auch aus medizinischer Sicht völlig wirkungslos, wenn nicht gar gesundheitsschädigend. Es sei vielmehr eine individuelle Therapie erforderlich – „und zwar ganz bestimmt nicht mit Pumpen“, so Bartolo.

Indessen berichten Flüchtlinge, die über den Fall mit Journalisten sprachen (u. a. derjenige, der das Video aufnahm), über Schikanen und Drohungen seitens der Mitarbeiter der Betreibergesellschaft. Einigen Flüchtlingen seien kein Essen und keine Zigaretten mehr zugeteilt worden, anderen hätte man Schläge angedroht.

Wie unerträglich die Lage in den Erstaufnahmeeinrichtungen ist, zeigt eine drastische Protestaktion von acht Flüchtlingen im CIE von Rom: Weil ihre legitime Forderung, endlich von dort in eine bessere Unterkunft verlegt zu werden, nicht beachtet wurde, nähten sie sich den Mund zu, sie mussten ärztlich behandelt werden.

In Hannover bildet sich Projektgruppe „Unser Herz schlägt auf Lampedusa“


Lampedusa ist kein Einzelfall. Es steht nicht nur für das Sterben vieler Flüchtlinge, sondern auch für das Leiden der Überlebenden. Und für die Weigerung Europas, Verantwortung für die Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen eines gesamteuropäischen Konzepts unter Einbeziehung aller Mitgliedsstaaten zu übernehmen.

Nach der Schiffskatastrophe vom 3. Oktober, bei der über 360 Menschen vor Lampedusa – als Tor zu Europa – ertranken, bildete sich in Hannover die Projektgruppe „Unser Herz schlägt auf Lampedusa“, bei der wir drei Mitglieder der Redaktion von „Aus Sorge um Italien“ aktiv mitwirken. Die Gruppe, die aus Deutschen und Italienern besteht, bereitet eine szenische Lesung vor, die auf authentischen Aussagen von Überlebenden, von Fischern und Bewohnern Lampedusas und von Behördenvertretern basiert. Die Lesung soll an verschiedenen Orten in Hannover und anderswo aufgeführt werden, um an das Schicksal der Flüchtlinge zu erinnern, Menschen dafür zu sensibilisieren und die Verantwortung Europas anzumahnen. Die Erlöse aus den Eintrittsgeldern sollen an Organisationen vor Ort gespendet werden, die konkret Flüchtlinge unterstützen. Die Premiere wird voraussichtlich im März in Hannover stattfinden.

Schon jetzt zeigt sich, dass das Projekt bei Organisationen, Institutionen und Einzelpersonen große Zustimmung erfährt – verbunden mit der Bereitschaft, die Realisierung auf vielfältiger Weise zu unterstützen und zu fördern. Das ist erfreulich und für uns eine Ermutigung, noch intensiver daran zu arbeiten.

Mit diesem Zeichen der Hoffnung, des Willens zur Veränderung und der Solidarität mit Flüchtlingen verbinden wir in diesem Jahr auch unsere herzlichen Wünsche für das Weihnachtsfest und ein friedliches neues Jahr an unsere Leserinnen und Leser.


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