Napolitanos Rede vor dem Europarlament

Vorbemerkung der Redaktion


Am 4. Februar hielt Staatspräsident Napolitano vor dem Strassburger Europarlament eine Rede, die wir im Folgenden auszugsweise dokumentieren. Napolitano ist 88 Jahre alt, aber manchen jüngeren europäischen Politikern – auch in Deutschland – müssten bei ihr, wenn sie nicht taub sind, die Ohren geklungen haben. Seine Rede begleiteten von der Lega Nord inszenierte Tumulte.


„… In den letzten 7 Jahren durchlebte die europäische Konstruktion die schwerste ihrer Prüfungen. Man hat schon oft festgestellt, dass sich die europäische Gemeinschaft von Anfang an über … Krisen entwickelte Aber es handelte sich dabei im Wesentlichen um politische Krisen zwischen den EU-Staaten. Jedoch nie um eine strukturelle Krise, wie jetzt seit 2008, nämlich eine Krise der Fähigkeit zu wirtschaftlichem und sozialem Wachstum, des Funktionierens der Institutionen, der Konsensbasis mit den Bürgern. Deshalb wurde auch noch nie so radikal der eingeschlagene Weg in Frage gestellt. Genau dies ist jedoch der Kontext, in dem jetzt die Neuwahl des europäischen Parlaments vorbereitet wird…

Giorgio Napolitano

Giorgio Napolitano

Es ist offensichtlich, dass die Hauptursache für die Ernüchterung, den Vertrauensverlust, die Verweigerung gegenüber dem europäischen Projekt und den EU-Institutionen in der Verschlechterung der Lebensbedingungen und des sozialen Status zu suchen ist, die in den meisten Mitgliedsländern der EU und der Eurozone breite Bevölkerungsschichten erfasst hat. Das Faktum, das emblematisch alle negativen und traumatischen Effekte der Krise bündelt, ist das Anwachsen der Arbeitslosigkeit, v. a. der immer dramatischeren Jugendarbeitslosigkeit.

Eine Politik von Austerität und Rezession

So scheint es natürlich, dass in der öffentlichen Diskussion … die Frage in den Vordergrund rückt, wie eine Wende zu dem allseits erhofften Wiederbeginn von Wachstum und Beschäftigung zu erreichen ist. Man meint, eine Politik der Austerität um jeden Preis ist nicht mehr durchzuhalten. Und damit eine Politik, die vor allem die Schuldenkrise einzelner Staaten im Euro-Raum beantwortete und drastische Maßnahmen zur Eindämmung der staatlichen Haushaltsdefizite und zum Schuldenabbau in den Euro-Ländern zur Folge hatte.

Es war ja in der Tat so, dass angesichts einer Krise, welche die finanzielle Nachhaltigkeit der Euro-Länder massiv in Frage stellte, eine Haushaltsdisziplin durchgesetzt werden musste, an der es nach der Einführung der gemeinsamen Währung auf schwerwiegende Weise fehlte… Insbesondere Italien hat in diesen Jahren Anstrengungen unternommen und Opfer gebracht, nachdem es beim Zinsniveau der in den Jahrzehnten zuvor angehäuften Staatschulden zur Zielscheibe starker Pressionen der Finanzmärkte geworden war. Auch die klare Verbesserung, die hier 2013 erreicht wurde, kann uns nicht davon abhalten, den Weg zum substanziellen Abbau der Schuldenlast fortzusetzen, einer Bürde, welche die nationale Führung nicht auf die Schultern kommender Generationen abwälzen darf.

Aber die strengen Stabilisierungsmaßnahmen, welche die EU in den Maastricht-Verträgen verankerte, hatten vor allem in den Ländern, denen sie die größten Opfer abverlangten, schwerwiegende Folgen: Rezession, Sinken des Bruttosozialprodukts und der internen Nachfrage. Trotz der mutigen Maßnahmen der EZB zur Eindämmung der Spekulation auf dem Markt für Staatsschuldverschreibungen und zur Injektion von Liquidität in die am schwersten betroffenen Ökonomien der Eurozone.

Eine Wende Richtung Wachstum und Beschäftigung

Die jetzt von vielen gewünschte Wende kann sicherlich nicht die Rückkehr zu exzessiven Defiziten und Schulden bedeuten, worauf eine unverantwortliche Demagogie zielt. Sie muss jedoch dem Wissen Rechnung tragen, dass es inzwischen zu einem Circulus vitiosus von restriktiver Politik im öffentlichen Finanzsektor und wirtschaftlichem Niedergang gekommen ist. Heute sind die betroffenen Ökonomien am Scheideweg zwischen beginnender Erholung und dem Risiko substanzieller Stagnation, wenn nicht Deflation angelangt.

Da es hier um das Schicksal einer ganzen Generation geht, ist es entscheidend, aus diesem Teufelskreis auszubrechen. Auch ein nur schwacher Wiederaufschwung, der nicht mit spezifischen Zielsetzungen für junge Arbeitslose verbunden wäre, würde ihnen nur geringe oder schlechte Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.

Man muss den radikalen technologischen Veränderungen Rechnung tragen, die sich im Wettbewerb mit großen außereuropäischen Ökonomien vollzogen. Wo nötig, müssen die berufliche Ausbildung und der Arbeitsmarkts reformiert werden, und muss in Wissen, Forschung und in die Ausbildung junger Arbeitskräfte zu neuen Beschäftigungsformen und –möglichkeiten investiert werden.

Ein nachhaltiges und qualifiziertes Wachstum erfordert sicherlich Strukturreformen, aber neben dem privaten Sektor auch gezielte öffentliche Investitionen in europäische und nationale Projekte. Dafür ist es nötig, neben der Einhaltung rigider Parameter in jedem Land auch ein höheres Augenmerk auf die Bedingungen für eine nachhaltige Entschuldung zu legen, und somit auf eine hinreichende Öffnung für die Modalitäten und Fristen des anzustrebenden finanziellen Gleichgewichts …“

Für eine institutionelle Reform

Im Fortgang seiner Rede stellte Napolitano fest, dass sich die europäischen Institutionen „angesichts einer dramatischen finanziellen, ökonomischen und sozialen Krise“ nur langsam und mit großer Verzögerung zu einer Korrektur ihrer früheren Politik durchgerungen hätten. Der Euro sei eine „historische Innovation“, dem aber immer noch „wesentliche Entsprechungen“ auf institutionellem Gebiet fehlten – aufgrund einer „anachronistischen Abkapselung“ der Nationalstaaten auf Gebieten, die nach der Euro-Einführung nicht mehr in die nationale Kompetenz fallen dürften. Napolitano fordert, „die Entscheidungsprozesse innerhalb der EU stärker demokratisch zu legitimieren… Eine neue Ära des wirtschaftlichen und in jeder Hinsicht nachhaltigen Wachstums ist notwendig, um das Vertrauen zu Europa wiederherzustellen; aber sie genügt nicht, um dem Integrationsprozess demokratische Legitimation zu geben, wenn sie nicht von Weiterentwicklungen in politischer und institutioneller Hinsicht in der EU begleitet wird“.

„Früher“, so schließt Napolitano, „war es eine wichtige Triebfeder für den europäischen Konsens, die ökonomischen und politischen Nationalismen zu beenden, die so fatale Konflikte zur Folge hatten… Heute kann es zu einer nicht weniger starken Triebfeder
werden, der Niedergang unseres Kontinents und dessen, was er in der Geschichte darstellte, zu verhindern. Europa insgesamt ist gegenüber anderen Kontinenten demografisch, wirtschaftlich und politisch kleiner geworden, aber wenn es seine Kräfte vereint, kann es auch weiterhin seinen spezifischen Beitrag für… die Zukunft der globalen Zivilisation leisten“. Allzu vielen der heutigen europäischen Führer – und da zitiert er Helmut Schmidt – fehle der „Weitblick“. In einem Kontinent, der so interdependent geworden sei wie der europäische, „ist die Politik national geblieben, mit ihren fatalen Grenzen und Entartungen“.