Avanti dilettanti!
„Was war das eigentlich? Eine Rede oder eine dadaistische Provokation?“ kommentierte die Journalistin Lucia Annunziata in der „Huffington Post“ Renzis Antrittsrede im Parlament. Improvisiert und strukturlos sei die Rede des „rhetorischen Naturtalents“ gewesen. Und sie fragt: „Gibt es denn niemand, der ihm etwas aufschreibt oder ihn wenigstens berät?“
Auch bei anderen politischen Kommentatoren kommt der junge Ministerpräsident, der aus der Jugend sein Programm macht, nicht gut weg.“Reden wir bitte nicht über die programmatische Tragfähigkeit dieser Rede, die war schlicht ein unverdauliches ‚Minestrone‘!“, so Massimo Cacciari, Philosoph und früherer Bürgermeister von Venedig. Und Repubblica-Gründer Scalfari: „Er sagt, seine Regierung sei die linkeste seit 30 Jahren. Ich würde sie eher eine ‚Pop-Regierung‘ nennen. Aber vielleicht ist ja die Linke ‚Pop‘ geworden. Keine Ahnung, ob das ein Fortschritt ist.“.Lob und Anerkennung bekommt Renzi allerdings auch, und zwar nicht nur von seinen Anhängern, sondern – nicht gerade eine Empfehlung – von Berlusconi persönlich. Renzi habe nicht zu den Abgeordneten, sondern zu Italien gesprochen, einfach und verständlich, genauso wie er (B.) es auch immer getan habe, schwärmt er. „Er ist mutig und hat sich getraut, dem Parlament nicht ehrfürchtig gegenüber zu treten“ freut er sich, der bekanntlich von Parlament und parlamentarischer Demokratie nicht viel hält.
Viel Wolkiges, wenig Konkretes
Schaut man sich das stenographische Protokoll (ein Manuskript gab es nicht) von Renzis Senatsrede an, überraschen zunächst die Oberflächlichkeit und sich häufenden Gemeinplätze und Worthülsen („Erneuerung“, „Vision“, „Mut zur Zukunft“, „lebendiges, brillantes, neugieriges Italien“, „wir müssen handeln, jetzt oder nie!“). Frei und assoziativ vorgetragen. Und zusammenhanglos. „Aria fritta“ („gebratene Luft“), pflegen die Italiener in solchen Fällen anschaulich zu sagen.
Zwar nennt Renzi politische Reformziele. Das konkreteste ist das institutionelle Reformpaket, das er noch vor Regierungsantritt mit Berlusconi aushandelte: Änderung des Wahlgesetzes, Verwandlung des Senats in eine Länderkammer, Reform der regionalen Verwaltung. Weitere durchaus richtige Schwerpunkte werden zwar mit Pathos vorgetragen, bleiben aber sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich der finanziellen Deckung nebulös. Als erste Priorität nennt Renzi zu Recht Schule und Bildung, geht aber dann im Wesentlichen nur auf – in der Tat dringend notwendige – bauliche Sanierungen ein. Inhaltliche und strukturelle Innovationen werden nicht genannt. Weitere Schwerpunkte sind die Bezahlung der Schulden, die der Staat gegenüber Unternehmen hat (ein Dauerthema auch bei Monti und Letta), die Senkung des Steuersatzes um 10 Punkte, ein „Jobs act“ zur Ankurbelung der Beschäftigung und eine allgemeine Arbeitslosenunterstützung.
Nach vorsichtigen Schätzungen liegen die Kosten allein für diese Vorhaben zwischen 50 und 70 Milliarden Euro. Wo soll die Kohle herkommen? Hierzu weiß der Erneuerer nur Nebulöses zu nennen: Die „Cassa di Depositi e Prestiti“ (das staatliche Anlagen- und Kreditinstitut) soll „anders genutzt“, öffentliche Ausgaben gekürzt (ebenfalls ein Dauerthema schon bei Monti und Letta), ins Ausland verbrachte Vermögen zurückgebracht (dito) und bisher ungenutzte EU-Mittel eingesetzt werden (na ja). Nach solider Finanzplanung sieht das gerade nicht aus.
Jeden Monat eine Reform?
Das hindert Renzi nicht daran, für seine Vorhaben einen furiosen Zeitplan vorzulegen: noch im Februar das Wahlgesetz (hat schon mal nicht geklappt), im März die Arbeitsreform, im April die Steuersenkung, im Mai die Begleichung der Schulden gegenüber Unternehmen, im Juni weiß ich nicht mehr… ach ja, die Justizreform! Doch wer gehofft hatte, hierzu Substanzielles zu hören, wurde ebenfalls enttäuscht. Zur Justizreform sagt Renzi: „Wir hatten zu diesem Thema 20 Jahre lang eine ideologische Auseinandersetzung. Doch nach 20 Jahren wird keiner mehr den anderen von seiner Meinung überzeugen, hier sind die Positionen zementiert, unveränderbar“. Wie bitte: „ideologische Auseinandersetzung“, „zementierte Meinungen“? Ging es und geht es nicht darum, die Rechtsstaatlichkeit gegen den Angriff eines inzwischen überführten Straftäters zu verteidigen? Renzi übernimmt hier Berlusconis Argumentationsmuster: Das Vorgehen der Justiz gegen ihn sei rein „ideologisch“ bzw. „politisch“ begründet gewesen. Auch zu den Inhalten der angekündigten Justizreform äußert sich Renzi nur vage: Man müsse beim Zivilrecht anfangen, hier sei der Handlungsbedarf am größten. Und – füge ich hinzu – weniger brisant als beim Strafrecht (à propos: eine gesetzliche Regelung des Interessenkonflikts erwähnt Renzi mit keinem Wort).
Plattitüden für das Volk
Je vager die programmatischen Aussagen, desto wortreicher die Beschwörung bevorstehender epochaler Neuerungen, immer wieder gespickt mit „volksnahen“ Beispielen und Bildern: die leidenden Bürger, sein arbeitsloser Freund, mit dem er gerade telefonierte, das junge Gewaltopfer Lucia, die gestressten Eltern, die früh morgens ihre Kinder zur Schule bringen (und fast in jeder seiner Reden vorkommen) … Denjenigen, die (wie ich) das Übermaß an Plattitüden kritisieren, antworten Renzis Anhänger, dies sei gerade Ausdruck seiner Erneuerung. Renzi habe direkt zu den Bürgern – statt zur „politischen Kaste“ – sprechen wollen. Was mich allerdings ins Grübeln bringt, denn es zeigt, dass er vom intellektuellen Fassungsvermögen „der Bürger“ nicht viel hält. Aber selbst wenn er damit teilweise recht haben sollte (was wahrscheinlich ist): Was ist mit den anderen? Ist es zu viel verlangt, dass er sich die Mühe macht, auch zu ihnen zu sprechen? Oder dass er wenigstens – wie die Annunziata vorschlug – jemanden aus seinem famosen Stab bittet, ihm eine gescheite Rede aufzuschreiben?
Wie dem auch sei: Ich wünsche dem neuen Ministerpräsidenten – im Interesse Italiens und auch Europas -, er möge bei seinem Regierungshandeln eine glücklichere Hand haben als bei seiner Antrittsrede. Und lasse mich gerne überraschen. Ehrlich.