Sozialdarwinismus und Barmherzigkeit
Dass es eine solche theoretische Äußerung gibt, verdanken wir dem Umstand, dass ein italienischer Verlag dem vor 10 Jahren gestorbenen Rechts- und Politikphilosophen Norberto Bobbio ein Denkmal setzte, mit der Neuauflage von dessen Bestseller „Rechts und Links“ und Daniel Cohn-Bendit und Matteo Renzi als Kommentatoren. Auszüge aus diesem Renzi-Beitrag finden sich in unserer Dokumentation. Hier kommentiere ich seine wichtigsten Gedanken, wobei ich auch Überlegungen der Politikwissenschaftlerin Nadia Urbinati berücksichtige, die sich in der „Repubblica“ zu Renzis Beitrag äußerte.
Renzi bekennt zu Beginn seines Kommentars, dass er ein überzeugter Anhänger des „Bipolarismus“ ist, d. h. des Modells der zwei Parteien, die sich wie in den USA in der Machtsausübung abwechseln. Er ist auch nicht dagegen, beide Pole weiterhin immer noch mit den Etiketten „Links“ und „Rechts“ zu versehen. Aber nur unter der Bedingung, dass diese Etiketten neu definiert werden. Dazu dient Renzi die Auseinandersetzung mit Bobbio, der mit dem Begriffspaar Ungleichheit/Gleichheit eine bleibende Grenzlinie zwischen Rechts und Links ziehen wollte. Für Renzi ist das überholt. Er bevorzugt andere Begriffspaare – Konservierung/Innovation, Offen/Geschlossen, Bewegung/Stagnation.
Renzis Gründe für den Abschied von der Gleichheit
- Die Gleichheit als unterscheidendes Kriterium für Rechts/Links sei obsolet, weil (a) die Sozialdemokratien im 20. Jahrhundert mit der Erfindung des Welfare „ihre Partie gewannen“ und die antagonistischen sozialen Blöcke überwanden, (b) die Gleichheit als „Polarstern der Linken“ ein schädliches „Misstrauen“ gegenüber Ideen wie „Leistung“ oder „Ehrgeiz“ erzeugt habe, (c) heute die Gesellschaft, z.B. durch die social networks, individualisiert und atomisiert sei, und sich (d) der heutige Aufstieg populistisch/fremdenfeindlicher Bewegungen nicht auf den Widerspruch zwischen Gleichen und Ungleichen zurückführen lasse.
- Obwohl die früheren sozialen Blöcke überwunden sind, gibt es auf der sozialen Stufenleiter immer noch „Oben“ und „Unten“, „Erste“ und „Letzte“. In diesem Kontext bleibe Gleichheit eine Frontlinie für die Demokraten, da es immer noch „Unterschiede in den Rechten, im Einkommen, in der Staatsbürgerschaft“ gebe. Aber diese Unterschiede betreffen atomisierte Individuen und nicht soziale Formationen. Genau an dieser Stelle findet Renzi jedoch den Wert, der an die Stelle der überholten Gleichheitsidee tritt und seine (neue) Linke „ideell definiert“: die „Solidarität mit den Letzten“. Sein Bezugspunkt ist Papst Franziskus, der zu diesen Letzten „mit Wärme in der Sprache der Solidarität spricht“.
- An die Stelle der sozialen Blöcke tritt für Renzi die „permanente Bewegung neuer sozialer Dynamiken…mit völlig neuen Akteuren auf völlig neuen Plätzen“. Statt sich auf überwundene „soziale Blöcke“ zu berufen, müsse die heutige Linke diesen neuen Dynamiken folgen, um nicht den „Kontakt zu den Letzten zu verlieren“. Was Renzi damit meint, lichtet sich ein wenig, wenn er sich gegenwärtig fast provozierend weigert, mit den Gewerkschaften über sein soziales Programm zu reden. Die „neuen Letzten“ repräsentieren sie für ihn offenbar nicht.
Drei Stolpersteine
Ein Manifest mit Stolpersteinen. Zunächst überrascht die Absolutheit, mit der Renzi konstatiert, die europäischen Sozialdemokratien hätten mit dem Welfare die „Partie gewonnen“, weshalb es hier auch keine definierten sozialen Blöcke mehr gebe. Wenn in Renzis eigenem Land über 40 % der Jugendlichen arbeitslos sind und Millionen von Haushalten unter die Armutsgrenze sinken, und wenn sich in fast ganz Europa, inklusive Deutschland, die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter öffnet, ist das eine erstaunliche Behauptung. Oder definieren sich für Renzi soziale „Blöcke“ nur durch ihre Organisation? Der Organisationsgrad der abhängig Beschäftigten sinkt tatsächlich europaweit. Dies gilt jedoch nicht für die Kapitalseite, die sich nicht nur in Gestalt der „Märkte“ als immer schlagkräftiger erweist und den Wohlfahrtsstaat zum Rückzug zwingt.
Der zweite Stolperstein ist Renzis Versuch, die Gleichheit aus dem Katalog linker Werte herauszuoperieren. Seit der französischen Revolution zielt die Rede von der Gleichheit in erster Linie auf die Gleichberechtigung aller Bürger, auf ihre Chancengleichheit, um aus dem eigenen Leben etwas zu machen. Wenn Renzi stattdessen – dieses „stattdessen“ ist wichtig – wieder „Ideen wie ‚Leistung’ oder ‚Ehrgeiz’ aufwerten“ will, ersetzt er beim „Ehrgeiz“ einen institutionellen Rechtsanspruch durch ein psychisches Vermögen. Wer sich nicht durchbeißt, bleibt auf der Strecke. Wozu Urbinati bemerkt: „Wird die Leistung von der Chancengleichheit getrennt, die der Markt nicht spontan hervorbringt, wird sie zum Freibrief für diejenigen, die sich im Vorteil befinden“.
Im Dienst der neuen Letzten
Doch halt, da gibt es ja noch Renzis „Solidarität mit den Letzten“, die über die Demontage der Gleichheit hinwegtrösten könnte. An die Stelle des langwierigen Kampfs um Gleichberechtigung und Chancengleichheit tritt der Kurzschluss Barmherzigkeit. Deshalb dürfe seine Linke nicht mehr schimärischen sozialen Blöcken nachlaufen, sondern müsse sich den „unruhigen sozialen Dynamiken“ von heute gewachsen zeigen, um die jeweils „neuen Letzten und neuen Ausgeschlossenen (Hervorhebungen von mir, H.H.) zu erkennen und sich sofort in ihren Dienst zu stellen“.
Das ist offenbar das Programm, und für mich der dritte Stolperstein: eine sozialdarwinistisch durchgeknetete Gesellschaft, kombiniert mit Barmherzigkeit. Welche praktische Politik daraus folgt, wird sich zeigen. Renzis erstaunliche Unvoreingenommenheit gegenüber einer Figur wie Berlusconi ist vielleicht ein erstes Indiz. Sein Bobbio-Kommentar ist keine Theorie der Linken, aber Ausdruck ihrer Krise. Denn er ist nicht nur italienischer Ministerpräsident, sondern auch der kürzlich mit großer Mehrheit gewählte neue Generalsekretär der PD.