Mein Freund wählt Berlusconi

Vor drei Tagen waren wir am Meer, bei unserem Freund A., der dort ein „Stabilimento“ betreibt. Als wir uns verabschiedeten, gestand er, dass er am heutigen Sonntag Forza Italia wählt. Wobei er betonte, dass er nicht Berlusconi wählt, sondern den Kandidaten X, der in seinem Ort für das Europaparlament kandidiert, aber nun mal zu Forza Italia gehört.

Das Geständnis

Ich war entsetzt: Was, Du wählst die Partei eines „Delinquenten“, eines Vorbestraften mit Verbindungen zur Mafia? Ich dachte, Du weißt, was für eine Partei das ist? A. antwortet: Ja, Du hast Recht, X. ist in der falschen Partei. Aber er ist ein guter Mensch. Er hat schon so viel für den Ort hier getan. Für mich, für uns alle. Und zwar immer nur Dinge, die (wörtlich) „ethisch gut“ sind. Er hat zum Beispiel für Fahrradwege in unserem Ort gesorgt. Und dass hier an den Strand kein Asphaltweg herkam, sondern ein Weg auf Holzbohlen. Das ist gut für die Natur. Aber man hat ihn immer wieder angefeindet und viele schlechte Dinge über ihn verbreitet. Ich wähle ihn, obwohl ich weiß, dass ich diese Partei eigentlich nicht wählen sollte. Aber es geht mir um ihn. Sonst, glaube mir bitte, würde ich die Liste Tsipras wählen (eine linke Liste, bei der noch unklar ist, ob sie die Sperrklausel von 4 % überwindet, H.H.). Ich schreie ihn fast an: Der Holzweg für Deine Stimme, das ist ein „voto di scambio“! (So nennt man in Italien Wahlstimmen für individuelle Gefälligkeiten, was die Mafia zur Perfektion entwickelte und in Italien inzwischen gesetzlich verboten ist). Ist es nicht, antwortet A. gelassen. Der Holzweg ist ja für alle da. Und kommt damit wieder auf das „ethisch Gute“. Du machst mich traurig, antworte ich. Was ihn nicht sonderlich beeindruckt.

Europawahlkampf 2014

Europawahlkampf 2014

Im Namen der Freundschaft

A. ist ein sehr netter, angenehmer Mensch. Den Holzbau, den er jetzt bewirtschaftet, hat er weitgehend selbst gebaut. Seine Frau liebt er aufrichtig (die übrigens PD wählt, wie er uns mitteilt) und ebenso seine zwei tollen Kinder. Sein Charakter prädestiniert ihn für diese Art von Arbeit: Zu jedem Gast, der sich mehr als einmal bei ihm blicken lässt, baut er schnell eine persönliche Beziehung auf, sein Gespräch ist klug und interessiert, seine Musik, die er leise im Hintergrund laufen lässt, zeigt Geschmack. Die Preise, die er macht, sind nicht ganz niedrig, aber er schafft es, sie als Nebensache erscheinen zu lassen. Man fühlt sich wohl bei ihm. So hat er sich eine Stammkundschaft aufgebaut, mit vielen ist er befreundet. Glauben sie es nur? So etwas kann nur ein Deutscher fragen, der nach „Eigentlichkeit“ sucht.

Nun wählt er also X. Nicht aus Berechnung, nicht weil er zu irgendeiner Gegenleistung verpflichtet ist, sondern aus Freundschaft. Weil das, was X macht, „ethisch gut“ ist, und sich A., wenn er ihn wählt, im Einklang mit sich selbst fühlt. Nicht ganz, denn irgendwie hat er auch das Gefühl, es uns gestehen und rechtfertigen zu müssen. Er weiß ja, was wir von Berlusconi halten. Beim Abschied gibt er meiner Frau nicht nur den üblichen Wangenkuss, sondern einen Handkuss extra. Und sagt ihr mit etwas schmachtendem Augenaufschlag: „Perdonami!“

Am gleichen Abend besucht mich mein Schachfreund D. Er isst bei uns zu Abend, und wir erzählen ihm von der Unterhaltung am Meer. D. ist sofort im Bilde: Klar, A. und die ganze Familie, aus der er stammt, sind schon seit langem mit X und Berlusconis Partei verbandelt. X sei übrigens schon zweimal verurteilt worden. Hinterher schaue ich im Internet nach: wegen Amtsmissbrauch, Fälschung, illegaler Bautätigkeit. Mehrjährige Gefängnisstrafen, die jedoch bisher immer ausgesetzt wurden. Auch sonst ist X Berlusconis gelehriger Schüler: Seinen Ort liebe er und habe für ihn immer das Beste gewollt. Schuld an seinen Verurteilungen seien nur die „roten Togen“ im Amtsgericht von Latina. Das also meinte A., als er von „Anfeindungen“ sprach.

Betrachtungen am Rande

Ich wage ein paar allgemeine Schlussfolgerungen:

Erstens liegt die „italienische Krankheit“ nicht nur an einer korrupten Politikerkaste, sondern hat ihre Wurzel im Volk selbst. Eine Binsenweisheit, die auch von ihm immer wieder gern vergessen wird.

Zweitens ist die Korruption auch deshalb unausrottbar, weil sie einen „ethischen“ Boden hat: die Freundschaft. In ihrem Selbstverständnis sind viele der Korrupten und Korrumpierten genau das, was unsere Klassiker von uns forderten: edel, hilfreich und gut. Und treu und loyal. Ich warte noch auf den Italiener, der mir sagt: Wenn es in Deutschland etwas weniger Korruption als in Italien gibt – liegt dies vielleicht daran, dass bei euch die Freundschaft weniger gilt? In die Bewunderung deutscher „Präzision“ mischt sich immer auch ein wenig Distanz zu deutscher „Kälte“.

Ist drittens Grillos Geschrei gegen die „Kaste“ vielleicht deshalb so schrill, weil dahinter die Verzweiflung eines Volkes über sich selbst steht? Mein Schachfreund D verkörpert diese Verzweiflung: Er sieht inzwischen überall Korruption und Verkommenheit, sogar in seiner eigenen (eigentlich überwiegend „sauberen“) kleinen Partei. Und schwankt, ob er Sonntag Tsipras, Grillo oder gar nicht wählen soll. War früher jemand von einem Übel befallen, dann war er vom Teufel besessen, der auszutreiben war. Wenn Grillo jetzt alle Schuld der „Kaste“ gibt, könnte es ein solcher Exorzismusversuch sein.

Ganz seriös sind diese Bemerkungen sicherlich nicht – wie alle Behauptungen über „Volkscharaktere“. Aber es könnte „etwas dran“ sein. Wir Deutschen sollten allerdings vorsichtig sein. Mein Vater zum Beispiel war ein gestandener Humanist, der dem Führer bis 1944 als Lehrer in einer Napola diente. Die Brücke war auch hier ein Ideal: soldatische Selbstaufopferung. Bis zum Freundschaftideal ist es da nicht weit, wenn auch das Selbstopfer noch edler klingt. Und sicherlich auch mörderischer war.