„O‘ ninno“ packt aus
Antonio Iovine, wegen seines jugendlichen Aussehens „O‘ ninno“ (neapolitanisch „das Kind“) genannt, sitzt eine lebenslange Haftstrafe ab. Vor Kurzem erklärte er aus dem Gefängnis heraus, mit der Justiz zusammenarbeiten zu wollen.
Der Boss, der früher einmal mit drei weiteren Männern (Schiavone, Zagaria, Bidognetti) die gesamten Aktivitäten der Camorra – in Italien und im Ausland – dirigierte, war 2010, nach 15 Jahren Flucht, verhaftet und in einem spektakulären Prozess verurteilt worden. Jetzt hat er sich zu einem umfassenden Geständnis entschlossen. Ein Teil von Iovines Aussagen ist noch durch das Untersuchungsgeheimnis gedeckt, doch bereits die Erklärungen, die der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden, haben es in sich.Unternehmen Camorra
„Der Clan handelt in erster Linie unternehmerisch“, erklärte der ehemalige „Wirtschaftsminister der Camorra“ (so Roberto Saviano) den Staatsanwälten. Einerseits werden die Einkünfte aus dem Drogenhandel und anderen illegalen Geschäften direkt in „legale“ Wirtschaftssegmente investiert: von der Schuhherstellung und Unterhaltungsindustrie bis hin zur Müllentsorgung, in den Bau von Erdgasleitungen und Windrädern und die – vom Landwirtschaftsministerium finanzierte – Wiederaufforstung der Wälder. Andererseits tritt der Clan bei der Auftragsvergabe als Mittler zwischen den von ihm abhängigen Unternehmen und den Behörden bzw. Politikern auf. „Den Unternehmern boten wir eine Art ‚all-inclusive-Paket‘, bei dem wir die einzigen Ansprechpartner waren und auch die Auszahlung der Quoten (Korruptionsgelder, MH) an die verschiedenen örtlichen Stellen übernahmen“, erklärte der Boss und setzte hinzu: „In den meisten Fällen lief das ohne jegliche Gewalt, es war nicht mal nötig, unsere Forderungen direkt zur Sprache zu bringen. Die Korruption der Behördenvertreter war alltäglich. Auch die der Politiker und Bürgermeister, die sich aus der Zusammenarbeit mit dem Clan Vorteile beim Gewinn von Wählerstimmen versprachen. Die politische Couleur war egal, das System funktionierte immer in der gleichen Weise“.
Einige Namen, die in Iovines Aussagen auftauchen, sind bereits bekannt, u.a. der ehemalige PD-Bürgermeister und heute fraktionslose Regionsabgeordnete Enrico Fabozzi sowie der frühere Regionsabgeordnete der rechten UDEUR Nicola Ferraro. Doch der Camorra-Kenner Saviano vermutet, das Geständnis von „O‘ ninno“ könnte noch für viel mächtigere Politiker gefährlich werden, u.a. für Nicola Cosentino, den ehemaligen Staatssekretär der Regierung Berlusconi, der bereits wegen Zusammenarbeit mit der Camorra zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Oder für Cesare Mastella, den schillernden UDEUR-Führer, der in Prodis Regierungsbündnis Justizminister war und und zu dessen Sturz beitrug, als Mastella von seinem Posten zurücktrat, weil gegen seine Ehefrau wegen Korruption ermittelt wurde.
Anzeichen des Niedergangs?
Saviano schreibt dem Geständnis Iovines, der als „Wirtschaftsminister“ der Camorra Hüter all ihrer Geheimnisse war, große Bedeutung zu. Er wertet es zudem als ein Zeichen zunehmender Schwäche der organisierten Kriminalität in Kampanien: „Es könnte ein enorm wichtiger Sieg des Staates werden“ schreibt er. „Die Wahrheit rückt näher: Unternehmertum, Politik, Justiz, Journalismus – das Geständnis von O‘ ninno könnte sie alle treffen. Die Bosse sehen sich gezwungen, auszupacken, weil sie merken, dass ihre Felle davonschwimmen und sie nicht mehr gewinnen können. Das wäre ein Sieg für die Demokratie. Einer der schönsten“.
Ist Savianos Einschätzung zu optimistisch? Mir fehlen die Kenntnisse, um das wirklich beurteilen zu können. Aber es gibt Anzeichen, die für seine These sprechen: Bei den Kommunalwahlen vor ein paar Wochen wurde in Casal di Principe, der „Hauptstadt der Camorra“ (die Camorristi werden auch „Casalesi“ genannt), mit Renato Natale ein profilierter Vertreter des Antimafia-Bündnisses „Libera“ zum Bürgermeister gewählt. Wiedergewählt, müsste man genauer sagen, denn er war schon mal Bürgermeister, von 1993 bis 1994. Er musste zurücktreten, nachdem er im Gemeinderat seine Mehrheit verloren hatte. Die Ermordung des Priesters Peppino Diana, der sich offen gegen die Camorra gestellt hatte, schüchterte sie ein. Jetzt, 20 Jahre danach, wurde Natale mit 68 % der Stimmen wiedergewählt. „Mein Motto? Ein Staat, der bestraft – der es aber auch versteht, sich an die Seite der ehrlichen Bürger zu stellen“ erklärte Natale nach seiner Wahl.
Ein weiteres Signal, das zum Niedergang der „Casalesi“ beitragen könnte: Der geständige Iovine hat nicht nur gegenüber der Justiz ausgepackt, sondern auch seine (ehemaligen) Kumpanen öffentlich aufgerufen, von ihren kriminellen Aktivitäten abzulassen und „ihren Lebenswandel“ zu ändern. Ob diese dem Aufruf ihren ehemaligen Bosses folgen, ist eine andere Frage. Aber es ist – indirekt – auch eine klare Botschaft an die Bevölkerung, den Camorristi die Gefolgschaft zu verweigern. Die Wiederwahl von Renato Natale zum Bürgermeister könnte bedeuten, dass die Botschaft angekommen ist.