Der letzte Europäer?

„Bekommt ihr nicht Gänsehaut, wenn ihr euch überlegt, dass es nun an euch liegt, den Traum von den Vereinigten Staaten von Europa zu verwirklichen, den jene Generationen hatten, die in den Trümmern der Nachkriegszeit mit der Schaffung eines neuen Subjekts begannen?“

Renzi auf der Internet-Seite www.Italia2014.eu, die aufgrund der jetzt beginnenden EU-Präsidentschaft Italiens eingerichtet wurde.

Politik ist die Kunst nicht nur zu handeln, sondern auch darüber zu reden. Wobei das Reden manchmal das Handeln überholt. Bevor Renzi Ende Juni zum EU-Gipfel fuhr, kündigte er nichts Geringeres als einen Kurswechsel Europas an. Von einer Haushaltspolitik, die statt von Austerität von Investitionen in Wachstum und Beschäftigung geprägt ist, bis zu einer anderen Flüchtlingspolitik. Diesen Zielen soll auch die italienische EU-Präsidentschaft dienen, die am 1. Juli beginnt. Die Angst, sich damit einem zu hohen Erwartungsdruck auszusetzen, ist Renzi offenbar fremd.

Renzi vor dem Straßburger Europaparlament

Renzi vor dem Straßburger Europaparlament

Als er aus Brüssel zurückkam, war von einer anderen Flüchtlingspolitik kaum noch die Rede (wir berichteten). Umso großartiger sind seine Erfolgsmeldungen zum Thema „Flexibilität“. Zwar blieben die Regeln des Stabilitätspakts erhalten, aber ihre Spielräume könnten nun anders genutzt werden. Eine Sprachregelung, die verdächtig nach einem glattgebügelten Widerspruch klingt.

Die kleingedruckte Realität

Der Ökonom Tito Boeri nahm sich in der Repubblica vom 30. Juni das Kleingedruckte des in Brüssel Vereinbarten vor. Da schrumpft der zusätzliche Spielraum, der Italien eingeräumt wird, 2015 auf 2 bis 3 Mrd. €. und in den Folgejahren auf einen langsameren Schuldenabbau. Aber unter der Bedingung tiefgreifender Reformen im Bereich der Arbeit, des Öffentlichen Dienstes und des Bildungswesens. Schon 2015 müsse der Haushalt „strukturell“ ausgeglichen sein. Renzi, der darauf verweisen kann, dass er die ersten beiden Reformen schon in Arbeit hat, hatte erfolglos versucht, dies bis 2016 hinauszuschieben.

Mit den 2 bis 3 Milliarden lässt sich in Italien nicht viel erreichen, weder für Wachstum noch gegen Arbeitslosigkeit (die bei den Jugendlichen inzwischen bei 43 % liegt). Dafür haben es die Bedingungen in sich: Um 2015 den Haushalt auszugleichen, muss Renzi noch in diesem Herbst einen Plan für massive Kürzungen der öffentlichen Ausgaben vorlegen. Damit u. a. die 80 € „strukturell“ werden können, die seit Mai monatlich 10 Millionen Lohnabhängigen und Arbeitslosen zugute kommen und mit denen Renzi bei den Europawahlen punktete. Bisher wurde das dafür notwendige Geld nur ad hoc aufgebracht. Aber im Herbst könnten dafür Sparmaßnahmen notwendig sein, die die Regierung politisch in Bedrängnis bringen.

Das verpuffte 80 €-Programm

Inzwischen zeigt sich, wie wenig mit kleineren Finanzspritzen wie dem 80 €–Programm zu erreichen ist, wenn sich ein Land im Schraubstock von Rezession und Austerität befindet. Eigentlich hatte das Programm nicht nur soziale Motive, sondern es sollte auch der Konsumgüterindustrie unter die Arme greifen. Aber diese Erwartung scheint sich nicht zu erfüllen. Statt in den Konsum stecken die Menschen das Geld lieber in den Sparstrumpf, als Vorsorge für eine schlechte Rente oder den Verlust des Arbeitsplatzes. Was in der heutigen Situation Italiens durchaus rational ist, auch wenn es den erhofften konjunkturellen Anschub unterläuft. So bleibt Renzi die Hoffnung auf deutsche und europäische Programme zur Ankurbelung des Wachstums, bei denen auch etwas für Italien abfällt.

Renzis Brüsseler „Sieg“ steht also auf wackeligen Beinchen. Trotzdem berührt mich sein leidenschaftliches Bekenntnis zu Europa. Gerade weil es so gar nicht dem Zeitgeist entspricht, scheint dahinter ehrliche Überzeugung zu stehen. Auf die „europäische Idee“ ist Reif gefallen. Die heutigen Verwalter Europas setzen an die Stelle der Solidarität den Dünkel des erhobenen Zeigefingers. Und vergessen ihre eigene Geschichte.

Leichen im Keller der Scheinheiligen

Am vergangenen Mittwoch legte Renzi vor dem Straßburger Europaparlament dar, wie er seine EU-Präsidentschaft für eine europäische Kehrtwende nutzen will. Sofort meldete sich der neue Fraktionsvorsitzende der EVP Manfred Weber (CSU) zu Wort, um Renzi in bekannter Manier die Leviten zu lesen: Nicht der Mangel an Flexibilität, sondern „die Schulden sind es, die die Zukunft zerstören“. An der Austeritätspolitik sei also festzuhalten. Renzi antwortete: „Wenn hier der EVP-Fraktionsführer für Deutschland sprach, möchte ich ihn daran erinnern, dass genau von hier aus seinem Land nicht nur die Möglichkeit zur Flexibilität, sondern zur Verletzung der Schuldengrenze eingeräumt wurde. Und Deutschland konnte wachsen … Wenn jemand glaubt, uns hier Lektionen erteilen zu können, hat er den falschen Ort gewählt“.

Gut gebrüllt, Löwe. Renzi erinnert an die wiederholten Verletzungen der Schuldengrenze, die sich gerade Deutschland in der Vergangenheit leistete: In den Jahren 2002 bis 2004 lag das deutsche Defizit zwischen 3,8 und 4,2 % vom BSP, womit es sich auch ein förmliches EU-Defizitverfahren einhandelte (das allerdings, wen wundert’s, wie das Hornberger Schießen endete). Es waren die Jahre der Hartz IV-Reform, die Deutschland sozial zurückwarf, aber dazu beitrug, seine Wirtschaft wieder auf den Wachstumspfad zu bringen. Nun, wo es seiner Wirtschaft gut geht, predigt es anderen Ländern, die sich mitten in der Rezession befinden, erbarmungslose Austerität. Renzi hat Recht: Das ist scheinheilig. Aber der Schlagabtausch, den sich Renzi mit Weber vor dem Europarlament lieferte, könnte der erste Vorbote einer Auseinandersetzung sein, die er sich in Zukunft mit Angela Merkel liefern wird.

Nach seiner Rückkehr aus Brüssel kündigte Renzi an, sich nun mit Hochdruck wieder seinem Reformprogramm für Italien zuwenden zu wollen. Er weiß, dass davon auch sein Erfolg auf der europäischen Bühne abhängt, auf der er inzwischen eine Art jugendlicher Held geworden ist. Auch wenn mir etwas bange vor der konkreten Gestalt seiner sozialen Reformen ist, für die offenbar Schröder und Blair die Vorbilder sind. Und wenn Renzis Traum von den Vereinigten Staaten von Europa dem Beharrungsvermögen der Nationalstaaten allzu weit vorauseilt.

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